Kann die Einnahme eines Cannabis-Produkts die Fahrtüchtigkeit fördern? © Adobe Stock: Parilov
Kann die Einnahme eines Cannabis-Produkts die Fahrtüchtigkeit fördern? © Adobe Stock: Parilov

Michael Sattmann vom Rechtsschutzbüro Ulm führte das Verfahren vor dem Sozialgericht Augsburg. Er lässt uns wissen, dass es dem Kläger um die Übernahme der Kosten einer Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen, hochdosierteren und THC(Hanf) -haltigen CBD-Öl ging, einer Mischung aus reinem Cannabidiol und einem Trägeröl.

 

Das vom Kläger gewünschte Öl enthält ein Cannabisextrakt mit unter 1% THC und zählt zu den Cannabinoiden. Es hat keine berauschende Wirkung und unterscheidet sich damit von herkömmlichen Cannabis. Der Reinstoff Cannabidiol, unterliegt anders als THC, keinen betäubungsmittelrechtlichen Regelungen.

 

Die Kasse stellt sich quer

 

Sattmanns Mandant ist chronischer Schmerzpatient. Er erhoffte sich aufgrund seiner Erfahrungen und der Meinung seiner Fachärztin durch eine Versorgung mit einem Cannabinoid eine Besserung seiner Beschwerden.

 

Die Krankenkasse kümmerte das wenig. Sie lehnte die Übernahme der Kosten mit der Begründung ab, bei dem beantragten Arzneimittel mit weniger als 2 % THC handele es sich um ein Cannabidiol, das sie nach geltendem Recht nicht bezahlen dürfe.

 

Im gerichtlichen Verfahren wies der Kläger darauf hin, er sei schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 50. Er benötige das CBD-Öl zur Behandlung seines chronischen Schmerzsyndroms im rechten Ellenbogen. Die üblichen Schmerzpräparate wirkten sich ungünstig auf die Behandlung seines Bluthochdruckleidens und eines Diabetes aus.

 

Herkömmliche Schmerzmittel haben erhebliche Nebenwirkungen

 

Seine Ärzte hätten ihn auf die Möglichkeit massiver Folgeschäden hingewiesen, würde er wie bislang zweimal täglich Novamin 500 mg sowie Ibuprofen 600 mg oder 800 mg einmal täglich und bei Bedarf mehrfach im Monat eine zweite Ibuprofen einnehmen. Die behandelnde Ärztin befürwortete deshalb ausdrücklich eine Kostenübernahme des Cannabisprodukts durch die Krankenkasse.

 

Dem Kläger war vor allem seine Fahrtüchtigkeit wichtig. Die sah er durch die bisherige Medikation mit den üblichen Schmerzmitteln als erheblich gefährdet an.

 

Der Medizinische Dienst (MDK) der beklagten Krankenkasse bestätigte die Auffassung der behandelnden Ärztin zumindest teilweise. In der medizinischen Literatur gebe es geringe Hinweise für eine spürbar positive Wirkung von CBD bei der schmerztherapeutischen Behandlung. Hinsichtlich des Einsatzes des vom Kläger gewünschten Cannabidoil stünden bislang jedoch nur wenige Daten kontrollierter klinischer Prüfungen zur Verfügung. Angesichts dessen sah der MDK-Gutachter den Einsatz von CBD kritisch.

 

Dem Sozialgericht reichte die Datenlage aus

 

Das Sozialgericht Augsburg bestätigte demgegenüber, dass die Voraussetzungen für die Genehmigung einer Versorgung mit Cannabis in Form eines Extrakts in standardisierter Qualität mit CBD im Fall des Klägers erfüllt waren.

 

Nach dem Gesetz besteht ein Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis für Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung

·       nicht zur Verfügung steht oder

·       im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des*der behandelnden Arztes*Ärztin unter

Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen kann.

 

Darüber hinaus muss eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehen.

 

Cannabis nur bei sehr starken Beeinträchtigungen

 

Mit der gesetzlichen Bestimmung habe der Gesetzgeber einen Personenkreis vor Augen gehabt, der durch seine Erkrankung sehr stark beeinträchtigt sei, so das Sozialgericht. Der Kläger leide an einer schwerwiegenden Schmerzerkrankung im Bereich des Ellenbogens mit zum Teil extremen, attackenartigen Schmerzen. Diese Schmerzen beeinträchtigten ihn im Privatleben sowie in der Arbeit und beim Autofahren. Der Kläger werde deshalb laufend behandelt. Auch daraus ergebe sich die Intensität der Beeinträchtigung.

 

Die behandelnde Ärztin habe begründet eingeschätzt, weshalb eine Cannabisversorgung notwendig sei und dies nicht nur behauptet. Sie habe auch die zu erwartenden Nebenwirkungen beim Krankheitszustand des Klägers mit der Standardtherapie ausreichend abgewägt und sei hierbei zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Standardtherapie nicht zur Anwendung kommen könne.

 

Im Fall des Klägers sei auch eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bzw. schwerwiegende Symptome gegeben. Das Gesetz fasse dieses Kriterium weit und verlange keinen Wirksamkeitsnachweis nach den Maßstäben evidenzbasierter Medizin.

 

Es muss auf Indizien gestützte Prognosen geben

 

Es genügten bereits Indizien zur Wirksamkeit, die sich auch außerhalb von Studien oder vergleichbaren Erkenntnisquellen finden könnten. Prinzipiell gelte:

 

"Je schwerwiegender die Erkrankung und hoffnungsloser die Situation, desto geringere Anforderungen an die ernsthaften Hinweise".

 

Das subjektive Empfinden Betroffener reiche für sich allein genommen nicht. Es müssten ärztliche, Prognosen geben, die sich auf Indizien stützen. Das erfordere erste wissenschaftliche Erkenntnisse in einem Mindestmaß dahingehend, dass bei dem konkreten Krankheitsbild durch den Einsatz von Cannabinoiden ein therapeutischer Erfolg zu erwarten ist.

 

Umfangreiche Forschungsdaten liegen nicht vor

 

Der MDK habe darauf hingewiesen, dass hinsichtlich des Einsatzes von Cannabidiol für die Behandlung chronischer Schmerzens bisher nur wenige Daten kontrollierter klinischer Prüfungen zur Verfügung stünden. In Tiermodellen sei zwar eine Schmerzreduktion nachgewiesen. Die medizinische Datenlage sei jedoch äußerst eingeschränkt und werde in der Medizin kritisch diskutiert.

Es gebe es eine kontrollierte klinische Studie zum Effekt von CBD bei der Behandlung von Schmerzen. Diese Studie sei mit zahlreichen Fehlern behaftet. Die Resultate habe der Gutachter deshalb als uninformativ bewertet.

 

Diese Einschätzung überzeugte das Gericht nicht. Es verweist auf eine weitere epidemiologische Untersuchung an Patient*innen, die mit CBD behandelt wurden. Dort führte das Mittel nachweislich zu einer Linderung nicht tumorbedingte Schmerzen und von Symptomen infolge neurologischer Erkrankungen bzw. psychischen Störungen wie Angst oder Depression.

 

Diese Veröffentlichung reichte dem Gericht aus, um das Vorliegen erster wissenschaftlicher Erkenntnisse über den Einsatz von CBD bei chronischem Schmerz anzunehmen. Zusammen mit dem vom Kläger berichteten Erfolg über den Einsatz von CBD-Öl und der damit verbundenen Reduzierung alternativer Schmerzmittel sei zu erwarten, dass das CBD-Öl spürbar positiv auf den Verlauf der Schmerzkrankheit einwirke. Dies gelte insbesondere deshalb, weil es dem Kläger vor allem auch um den Erhalt der Fahrtüchtigkeit durch einen geringen Anteil des THC bei der Behandlung gehe.

 

Der Erfolg war dem Kläger zu wünschen

 

Die Voraussetzungen für die Genehmigung einer Versorgung des Klägers mit Cannabis in Form eines Cannabisextrakts seien daher gegeben, schreibt das Gericht. Ein begründeter Ausnahmefall, bei welchem die Beklagte vor der ersten Verordnung die Genehmigung hätte ablehnen dürfen, liege beim Kläger nicht vor.

 

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Hier geht’s zum Urteil des Sozialgerichts Augsburg im Volltext.

 

 

Rechtliche Grundlagen

§ 31 VI SGB V

(6) Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,

2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist. Verordnet die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt die Leistung nach Satz 1 im Rahmen der Versorgung nach § 37b oder im unmittelbaren Anschluss an eine Behandlung mit einer Leistung nach Satz 1 im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthalts, ist über den Antrag auf Genehmigung nach Satz 2 abweichend von § 13 Absatz 3a Satz 1 innerhalb von drei Tagen nach Antragseingang zu entscheiden. Leistungen, die auf der Grundlage einer Verordnung einer Vertragsärztin oder eines Vertragsarztes zu erbringen sind, bei denen allein die Dosierung eines Arzneimittels nach Satz 1 angepasst wird oder die einen Wechsel zu anderen getrockneten Blüten oder zu anderen Extrakten in standardisierter Qualität anordnen, bedürfen keiner erneuten Genehmigung nach Satz 2. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte wird mit einer bis zum 31. März 2022 laufenden nichtinterventionellen Begleiterhebung zum Einsatz der Leistungen nach Satz 1 beauftragt. Die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt, die oder der die Leistung nach Satz 1 verordnet, übermittelt die für die Begleiterhebung erforderlichen Daten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in anonymisierter Form; über diese Übermittlung ist die oder der Versicherte vor Verordnung der Leistung von der Vertragsärztin oder dem Vertragsarzt zu informieren. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte darf die nach Satz 6 übermittelten Daten nur in anonymisierter Form und nur zum Zweck der wissenschaftlichen Begleiterhebung verarbeiten. Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, den Umfang der zu übermittelnden Daten, das Verfahren zur Durchführung der Begleiterhebung einschließlich der anonymisierten Datenübermittlung sowie das Format des Studienberichts nach Satz 9 zu regeln. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Begleiterhebung nach Satz 5 regelt der Gemeinsame Bundesausschuss innerhalb von sechs Monaten nach der Übermittlung der Ergebnisse der Begleiterhebung in Form eines Studienberichts das Nähere zur Leistungsgewährung in den Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6. Der Studienbericht wird vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte auf seiner Internetseite veröffentlicht