Damit hat das Bundesverfassungsgericht erneut die Gelegenheit, über die Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen gegen Bezieher von SGB II-Leistungen („Hartz IV“) zu entscheiden.
Leistungskürzung um 60 % und mehr gesetzlich möglich
Bereits im Mai 2015 hatte das Sozialgericht Gotha sich mit einer Vorlage an das Verfassungsgericht gewandt. Es war der Überzeugung, dass es gegen das grundgesetzliche Gebot der Sozialstaatlichkeit verstoße, wenn eine Leistung, die das menschenwürdige Existenzminimum garantieren soll, aufgrund von Pflichtverletzungen gekürzt werden könne.
Im konkreten Fall hatte das zuständige Jobcenter die Leistungen aufgrund von zwei Pflichtverletzungen zunächst um 30%, dann um weitere 30% auf insgesamt nur noch 40% gekürzt (Sozialgericht hält Kürzung von Hartz IV für verfassungswidrig ). Daraufhin legte das Gericht die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor.
Dieses entschied im Mai 2016 allerdings nicht im Sinne des Sozialgerichts (Verfassungsgericht beseitigt Hartz IV-Sanktionen nicht). Das Verfassungsgericht sah die aufgeworfene Frage zwar als „verfassungsrechtlich gewichtig“ an, gleichwohl seien die formellen Voraussetzungen der Richtervorlage nicht erfüllt.
Es sei nämlich nicht deutlich, ob die Verfassungswidrigkeit tatsächlich entscheidungserheblich gewesen sei, oder ob das Gericht die Bescheide nicht aus einem anderen Grund für rechtswidrig hätte erklären müssen, etwa weil der Kläger nicht hinreichend über die Sanktionsmöglichkeit aufgeklärt worden wäre.
Zweiter Anlauf gegen erneute Leistungskürzung
Im nun vorgelegten Fall ging das Sozialgericht auf die Bedenken aus Karlsruhe ein: Das Gericht stellte ausdrücklich fest, dass der Kläger bei beiden Sanktionen (es ging wiederum um zwei Kürzungen um jeweils 30% wegen Pflichtverstößen) hinreichend auf die Gefahr hingewiesen worden sei, dass seine Pflichtverletzung Folgen haben könnte.
Nachdem der Sanktionsbescheid also nicht aus diesem Grund unwirksam war, hätte das Gericht die Klage abweisen müssen. Denn gemessen am geltenden Recht seien die Sanktionsbescheide rechtmäßig gewesen.
Es kam in dem Fall also gerade darauf an, ob die Regelungen des SGB II verfassungsgemäß sind. Denn nur, wenn die Sanktionsregelung verfassungswidrig wäre, dürfte sie nicht mehr angewandt werden. Damit wäre eine Minderung des ALG II-Anspruches nicht zu rechtfertigen.
Sanktionen nach Ansicht des Gerichts verfassungswidrig
Das Gericht ist allerdings der festen Überzeugung, dass Sanktionen in Form von Kürzungen des Existenzminimums verfassungswidrig sind. Es verstoße gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, wenn dieses Minimum auf Grund von Pflichtverletzungen um 30 bzw. 60% gekürzt werden könne.
Bereits denknotwendig müsse es eine unterste Grenze staatlicher Leistungen geben, die jedem Menschen „unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit“ zugestanden werden. Diese Grenze dürfe nicht unterschritten werden.
Dabei wählt das Gericht durchaus deutliche Worte. Es sei „in einem Sozialstaat undenkbar, unzulässig und verfassungswidrig, soziale Hilfen komplett zu versagen und Bedürftige gegebenenfalls hungern zu lassen.“
Selbst wenn man unterstelle, dass Sanktionen einem legitimen Zweck dienten, so stünden „die Konsequenzen der Sanktionen völlig außer Verhältnis zum verfolgten Ziel.“ Das Gericht untermauert diese Einschätzungen mit Beispielen aus der Praxis und zeichnet in seinem Vorlagenbeschluss ein Bild, das tatsächlich nicht mit dem Grundsatz eines Sozialstaats zu vereinbaren ist.
Das letzte Wort hat allerdings das Bundesverfassungsgericht, denn nur ihm obliegt es, Gesetze wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz für verfassungswidrig zu erklären.
Hier direkt zum Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 2. August 2016 - Az.: S 15 AS 5157/14 im Volltext
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Das sagen wir dazu:
Jetzt ist Karlsruhe am Zug: Das Bundesverfassungsgericht hat es erneut in der Hand, die irrwitzige Gesetzeslage zu beseitigen, die dem Bedürftigen zwar ein „Minimum“ an sozio-kultureller Teilhabe zugesteht, gleichzeitig aber Sanktionen vorsieht, mit denen dieses Minimum deutlich unterschritten werden kann.
Das Gericht benennt diesen Missstand sehr klar und verdeutlicht zugleich, welche Folgen die Unterschreitung dieses Minimums hat: Körperliche Mangelerscheinungen, Depressionen, Tod und Selbstmord. Das Existenzminimum ist keine bloße Rechengröße, es sichert die nackte Existenz. Wird es unterschritten, gerät die Existenz in reale Gefahr.
Dies mögen die Verfassungsrichter im Sinn gehabt haben, als sie Vorlage der Gothaer Richter zwar wegen eines Formfehlers zurückwiesen, diese gleichzeitig jedoch mit dem Hinweis bestärkten, sie hätten eine „ verfassungsrechtlich gewichtige“ Frage aufgeworfen.
Derart ermutig, hat das Gericht nun einen zweiten Anlauf gewagt. Ob dieser von Erfolg gekrönt sein wird, bleibt abzuwarten, denn beim Bundesverfassungsgericht sind Verstöße gegen die Form eben keine „bloßen Formfehler“, die man eben mal schnell beseitigen kann. Sollten sich die Verfassungsrichter der Sache inhaltlich annehmen, darf man auf das Urteil sehr gespannt sein.
Rechtliche Grundlagen
Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz
Art 100
(1) Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem Bundesgesetze handelt.
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