Bildunterschrift: Bundesverfassungsgericht erklärt Hartz IV-Sanktionen nicht für verfassungswidrig.
Bildunterschrift: Bundesverfassungsgericht erklärt Hartz IV-Sanktionen nicht für verfassungswidrig.

Das Sozialgericht Gotha hatte dem Bundesverfassungsgericht im Mai 2015 einen Fall zur Prüfung vorgelegt, in dem einem Leistungsempfänger das ALG II um 60% gekürzt worden war. Das Verfassungsgericht wies die Vorlage jetzt zurück.

Hartz IV-Leistungen um 60% gekürzt

Das Jobcenter Erfurt hatte einem ALG II-Empfänger die Leistung um insgesamt 234,60 € gekürzt. Dies entsprach 60 % des damaligen Regelsatzes. Gegen diese Sanktion hatte der Hartz IV-Bezieher geklagt.

Die Kürzung hatte das Jobcenter damit begründet, dass der Kläger seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei. Er habe ein Arbeitsangebot abgelehnt, woraufhin ihm das ALG II zunächst um 30 Prozent monatlich gekürzt wurde. 

Später habe der Kläger eine Probetätigkeit bei einem Arbeitgeber abgelehnt, woraufhin ihm die Leistung um weitere 30 Prozent gekürzt wurde. Insgesamt betrug die Kürzung also nun um 234,60 Euro pro Monat, entsprechend 60% des Regelsatzes.

Sozialgericht legt in Karlsruhe vor

Die Richter*innen des Sozialgerichts Gotha sahen in der Kürzung einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot. Aus diesen Vorschriften ergebe sich das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

Das menschenwürdige Existenzminimum sei aber gefährdet, wenn das ALG II gekürzt oder komplett gestrichen werde. Außerdem bestehe durch die Sanktionen die Gefahr, dass die Gesundheit oder gar das Leben des Betroffenen gefährdet würden.

Weil das Gesetz, an das auch die Richter*innen des Sozialgerichts Gotha gebunden sind, eine solche Sanktion ausdrücklich erlauben, konnten sie den Sanktionsbescheid nicht selbst aufheben, sondern mussten sich an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wenden, damit dieses die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes feststellt.

Verfassungsgericht weist Antrag zurück

Das Verfassungsgericht wies den Antrag zurück: Entscheidend sei für den Erfolg einer Richtervorlage, dass es für die Entscheidung in der Sache gerade aufkomme, ob die Norm verfassungswidrig ist. Das vorlegende Gericht müsse in der Begründung klar genug deutlich machen, warum es im Falle der Gültigkeit der in Frage gestellten Normen zu einem anderen Ergebnis käme als im Falle ihrer Ungültigkeit.

Um beurteilen zu können, worauf es ankomme, müsse sich das Gericht eingehend mit der Rechtslage anhand der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen auseinandersetzen und zu unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten Stellung nehmen, soweit sie für die Entscheidung maßgeblich sein können. Außerdem muss das vorlegende Gericht alle tatsächlichen Umstände aufklären, die für die Vorlage von Bedeutung sein können. 

Diese Anforderungen habe die Vorlage nicht erfüllt. Zwar werfe der Vorlagebeschluss durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf. Es sei aber nicht klar, warum es in dem Fall darauf ankam, ob die Sanktionen verfassungswidrig sind. Bei genauerer Prüfung hätte sich auch ergeben können, dass die Kürzungsbescheide aus anderen Gründen unwirksam gewesen sind. Dann wäre es auf die Frage, ob die Sanktionsnorm verfassungswidrig ist, nicht mehr angekommen.

Anmerkungen

Die Richtervorlage stellt hohe Anforderungen: Das Bundesverfassungsgericht soll sich eben nur dann mit den verfassungsrechtlichen Einwänden eines Gerichts beschäftigen, wenn es tatsächlich darauf ankommt und das Gericht sehenden Auges verfassungswidrig handeln müsste. 

Dieser Nachweis ist den Richter*innen des Sozialgerichts Gotha leider nicht gelungen. Sie befinden sich dabei durchaus in guter Gesellschaft, denn etwa 90% aller Richtervorlagen werden abgelehnt.

So bleibt es bei der irrwitzigen Gesetzeslage, dass der Gesetzgeber zwar einerseits ein „Minimum“ einführt, gleichzeitig aber Vorschriften schafft, mit denen dieses Minimum problemlos unterschritten werden darf. Weniger als Minimum – das ist politische Mathematik.

Völlig unverständlich und dem deutschen Rechtssystem wesensfremd ist außerdem, dass die Kürzung bei SGB II-Leistungen offenbar uferlos möglich ist. Eine Reduzierung um 60% wegen zwei Pflichtverstößen sah das Jobcenter Erfurt als verhältnismäßig an. Hier wäre es Aufgabe des Gesetzgebers, wenigstens einen Sanktionsrahmen festzulegen.

Hier direkt zu Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts zum Beschluss vom Beschluss vom 06. Mai 2016 - 1 BvL 7/15


Lesen sie auch unsere Beiträge zu:

Sozialgericht hält Kürzung von Hartz IV für verfassungswidrig


Im Praxistipp: § 31 Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende (Pflichtverletzungen)

Rechtliche Grundlagen

§ 31 Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende (Pflichtverletzungen)

Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954)
§ 31 Pflichtverletzungen

(1) Erwerbsfähige Leistungsberechtigte verletzen ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis
1. sich weigern, in der Eingliederungsvereinbarung oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach § 15 Absatz 1 Satz 6 festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen,
2. sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit nach § 16d oder ein nach § 16e gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern,
3. eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben.
Dies gilt nicht, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen.

(2) Eine Pflichtverletzung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist auch anzunehmen, wenn
1. sie nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermögen in der Absicht vermindert haben, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung des Arbeitslosengeldes II herbeizuführen,
2. sie trotz Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen,
3. ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht oder erloschen ist, weil die Agentur für Arbeit das Eintreten einer Sperrzeit oder das Erlöschen des Anspruchs nach den Vorschriften des Dritten Buches festgestellt hat, oder
4. sie die im Dritten Buch genannten Voraussetzungen für das Eintreten einer Sperrzeit erfüllen, die das Ruhen oder Erlöschen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründen.