Der Sozialstaat zeigt seine Grenzen. Obwohl psychisch krank, kein Anspruch auf rückwirkende ALG II - Leistungen.
Der Sozialstaat zeigt seine Grenzen. Obwohl psychisch krank, kein Anspruch auf rückwirkende ALG II - Leistungen.


Wenn ein Bezieher von Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") das Antragsformular nicht ausgefüllt an das Jobcenter zurück sendet, so hat dieser nach verspäteter Einreichung des Formulars keinen Anspruch auf rückwirkende Leistungen. Dies gilt nach Auffassung der Richter*innen der 10.Kammer des Sozialgericht (SG) Mainz selbst dann, wenn der Antragsteller seelisch erkrankt ist.

Der Kläger bezog seit 2013 Hartz IV  - Leistungen, die immer für einen bestimmten Zeitraum bewilligt wurden. Vor Ablauf eines Bewilligungszeitraums sandte das Jobcenter dem Kläger ein neues Antragsformular zu und wies auf die Notwendigkeit eines Antrages hin. Da die Leistungen Ende Dezember 2014 ausliefen, wurde dem Leistungsempfänger Anfang November erneut ein Antragsformular zugeschickt, das der Kläger diesmal jedoch nicht zurücksandte.
 

Jobcenter: Kein Anspruch auf rückwirkende Leistungen


Unstreitig war der Kläger zwischenzeitlich seelisch erkrankt und mit einiger Wahrscheinlichkeit zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern.

Dafür, dass er außerstande war sich um seine Angelegenheiten zu kümmern, spricht auch, dass ihm eine Betreuerin zur Seite gestellt wurde, mit deren Hilfe er sich im Juni 2015 an das Jobcenter wandte und Leistungen beantragte.

Die rückwirkend begehrten Leistungen für Januar bis Mai 2015 lehnte das Jobcenter ab, da das Gesetz eindeutig bestimme, dass für Zeiten vor Antragstellung keine Leistungen gewährt würden. Ab Juni 2015 wurden die Leistungen gewährt.
 

Sozialgericht bestätigt Rechtsauffassung des Jobcenters


Gegen die Entscheidung des Jobcenters erhob der Mann mit Hilfe seiner Betreuerin Klage und machte geltend, dass er aufgrund seiner Krankheit unverschuldet daran gehindert gewesen sei, den Antrag zu stellen.

Zudem sei er noch bis Januar 2015 in einer Maßnahme des Jobcenters gewesen und habe seinem zuständigen Ansprechpartner von seinen Problemen und dem noch nicht eingesandten Antrag erzählt.
 

"Wiedereinsetzung in vorigen Stand" bei fehlenden Anträgen nicht möglich


Unter Hinweis auf die Rechtsprechung wies das SG die Klage ab. Denn höchstrichterlich sei geklärt, dass eine "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" in einem solchen Fall nicht eingreife, da diese nur bei einer unverschuldeten Versäumung von gesetzlichen Fristen helfe, aber nicht - wie vorliegend - bei einem fehlenden Antrag.

Eine frühere Antragstellung könne auch nicht anderweitig konstruiert werden, da dies eine Pflichtverletzung des Jobcenters voraussetze. Eine solche Pflichtverletzung liege aber nicht vor: Das Jobcenter sei seiner Pflicht nachgekommen, die Leistungsbezieher vor Ablauf des Bewilligungszeitraums auf die Notwendigkeit einer erneuten Antragstellung hinzuweisen.

Weitergehende Verpflichtungen, wie etwa persönlich beim Kläger vorbeizuschauen oder den Sozialdienst auf Verdacht einzuschalten, bestünden nicht. Das Jobcenter habe auch keinerlei Anhaltspunkte für die Probleme des Klägers gehabt, da in der Vergangenheit die Antragstellung funktioniert habe. Schließlich hätte das Jobcenter auch - selbst wenn es Kenntnis von der Erkrankung gehabt hätte - den Antrag nicht für den Kläger stellen können.

Soweit der Behörde eine allgemeine Fürsorgepflichtverletzung vorgeworfen werden sollte, könne der Kläger allenfalls Schadensersatz verlangen, der aber bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit geltend zu machen sei.


Hier finden Sie die Pressemitteilung des Sozialgerichts Mainz vom 03. Januar 2017:

Das sagen wir dazu:

Der von dem SG Mainz entschiedene Fall zeigt einmal mehr, dass psychisch Kranke, die außerstande sind, sich um ihre Angelegenheiten in der erforderlichen Weise zu kümmern, schlichtweg „durch den Rost fallen“.
 
Wenn man an den Buchstaben des Gesetzes klebt wie das SG im Einklang mit dem Jobcenter und deswegen Teile der Begründung des Klägers für unbeachtlich hält, so erscheint die Entscheidung der Mainzer Sozialrichter*innen nachvollziehbar.
 
Da der Kläger jedoch noch im Januar 2015 Teilnehmer einer Maßnahme des Jobcenters war und seinem zuständigen Ansprechpartner von seinen Problemen und dem noch nicht eingesandten Antrag erzählte, hätte man hieraus durchaus eine Verpflichtung des Jobcenters ableiten können, wie etwa persönlich beim Kläger vorbeizuschauen oder den Sozialdienst einzuschalten.
 
Dass eine solche mögliche Verpflichtung durch das Jobcenter und das Sozialgericht nicht in Betracht gezogen wurde ist bedauerlich. Gibt es doch zu erkennen, dass psychische Erkrankungen, die es unmöglich machen die eigenen Geschäfte zu besorgen, bei manchen Entscheidern/ Sozialrichter*innen nicht dazu führt, diesen den Schutz zu gewähren, den man von einem Staat erwartet, der sich im Sinne des Artikel 20 (1) Grundgesetz um die soziale Gerechtigkeit bemüht und sich um die soziale Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger kümmert.