Eine Kündigung wegen Zuspätkommens kann unwirksam sein, wenn der Arbeitnehmer sich nicht pflichtgemäß verhalten konnte. Copyright by Drobot Dean/fotolia.
Eine Kündigung wegen Zuspätkommens kann unwirksam sein, wenn der Arbeitnehmer sich nicht pflichtgemäß verhalten konnte. Copyright by Drobot Dean/fotolia.

Urteile zu Prozessen wegen einer verhaltensbedingten Kündigung sind so bunt wie das Leben.

In die illustre Reihe der Urteile zur Frage, wann eine verhaltensbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt ist  - oder eben nicht!  - reiht sich das Urteil von Arbeitsgericht Berlin ein. Vertreten wurde die Klägerin  - Mitglied der Gewerkschaft Ver.di  - vom Berliner Büro der DGB Rechtsschutz GmbH.
 
Die 45 Jahre alte Klägerin ist seit 27 Jahren bei der Beklagten, einem Postlogistik-Unternehmen als Sortiererin in einem Briefzentrum beschäftigt. Sie hat einen Grad der Behinderung von 70, unter anderem weil sie unter einem cerebralen Anfallsleiden und einem hirnorganischen Psychosyndrom leidet.
 

BEM  - ohne Klägerin

In den Jahren 2015 bis 2017 erschien die Klägerin häufig zu spät zur Arbeit, insgesamt an mehr als 100 Arbeitstagen. Im Juli 2017 fand ein Gespräch über den künftigen Einsatz der Klägerin und das Problem des verspäteten Dienstantritts statt.
 
An dem Gespräch nahmen teil: Ein Vertreter des Integrationsamtes, sowie jeweils ein Vertreter des Betriebsrates, der Schwerbehindertenvertretung und der Personalabteilung. Die Klägerin war zwar eingeladen, jedoch bei dem Gespräch nicht anwesend. Es wurde nicht „mit“, sondern „über“ die Klägerin gesprochen. Ergebnis des Gesprächs war, dass der Klägerin eine Ermahnung ausgesprochen werden sollte.
 
Im August 2017 fand ein weiteres Personalgespräch statt. Der Klägerin wurde eine schriftliche Ermahnung überreicht. Anwesend waren ein Mitarbeiter des Integrationsfachdienstes, ein Mitglied der Schwerbehindertenvertretung sowie ein Betriebsratsmitglied.
 
Das Protokoll des Gesprächs enthält folgenden Inhalt: „Der Arbeitnehmerin wurde aufgezeigt, dass ihre hohen Verspätungen zukünftig nicht mehr akzeptiert werden.“ Aussagen dazu, wie die Klägerin künftig ihre Arbeitsleistung ordnungsgemäß erbringen könne, enthielt das Protokoll nicht.
 

Weiteres Zuspätkommen und Abmahnungen

Die Klägerin kam danach weiterhin zu spät. Für zwei weitere Verspätungen erhielt die Klägerin jeweils eine Abmahnung.
 
Anfang September 2017 räumte die Beklagte der Klägerin einen um eine Stunde nach hinten verlegten Dienstbeginn ein  - statt ab 9:00 Uhr sollte die Klägerin erst ab 10:00 Uhr zum Dienst erscheinen. Trotzdem kam die Klägerin weiterhin zu spät. Für ein weiteres Zuspätkommen erhielt sie eine weitere Abmahnung.
 
Ende September 2017 fand ein weiteres Gespräch zwischen der Klägerin sowie Vertretern des Integrationsamtes, des Integrationsfachdienstes, der Schwerbehindertenvertretung, des Betriebsrates und der Personalabteilung statt. Das Protokoll des Gespräches enthält folgenden Inhalt:
 
„Änderung des Verhaltens: Die Arbeitnehmerin wird ihr Verhalten bzgl. der Verspätungen aufgezeigt. Ihr wird verdeutlicht, dass der Arbeitgeber dies nicht länger hinnehmen wird. Sollte sich das Verhalten nicht ändern, wird der Arbeitgeber die Kündigung einleiten. Der Vertreter des Integrationsamtes bittet, der Arbeitnehmerin einen gleitenden Dienstbeginn zu ermöglichen. Arbeitgeberseitig wird erörtert, dass dies einen besonderen Betreuungsaufwand bedeutet. Er wird jedoch angeboten befristet bis Mitte Dezember 2017 einen gleitenden Arbeitsbeginn zu ermöglichen.“
 

Klägerin bekommt Kündigung

Es überrascht eigentlich nicht  - die Klägerin erschien weiterhin zu spät zur Arbeit. Die Beklagte hörte die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat an. Beide Gremien widersprachen der beabsichtigten Kündigung. Nach erteilter Zustimmung des Integrationsamtes zur ordentlichen Kündigung ging der Klägerin am im Januar 2018 das Kündigungsschreiben zu.
 
Zur Begründung der Kündigungsschutzklage führte die Klägerin  - vertreten durch das Berliner Büro des DGB Rechtsschutz aus: Die verhaltensbedingte Kündigung ist ausgeschlossen, da die Klägerin ihr Verhalten nicht steuern könne. Demgegenüber sei der Beklagten bewusst gewesen, dass die Klägerin aufgrund ihrer Behinderung die Verhaltensanforderungen nicht erfüllen könne. Die Beklagte habe der Klägerin keine Beschäftigung zur Verfügung gestellt habe, die ihren Fähigkeiten und Kenntnissen gerecht würde. Zudem falle die von der Klägerin zu bearbeitende Menge an Post in der Resthandsortierung später am Tag an und sei nicht zwingend taggleich zu erledigen.
 
Die Beklagte vertrat demgegenüber die Auffassung, dass die Kündigung sozial gerechtfertigt sei. So sei das ständige Zuspätkommen an sich als Kündigungsgrund geeignet. Alle milderen Mittel zur Vermeidung einer Kündigung habe man versucht. Eine Besserung im Verhalten Die Klägerin habe aber ihr Verhalten nicht gebessert.
 
Im Rahmen eines Präventionsgespräches seien hinreichend Möglichkeiten gesucht worden, um die Probleme zu beheben. Auch betriebliche Gründe stützten eine Kündigung. So müsse die Resthandsortierung stets in der Frühschicht erfolgen, zwischen 6:30 Uhr und 15:30 Uhr. Nur so könne man die rechtlichen Anforderungen als Postunternehmen erfüllen.
 

Kein ordnungsgemäßes BEM durchgeführt

Das Arbeitsgericht gab der Kündigungsschutzklage statt. Zwar bejaht das Arbeitsgericht Berlin eine der Klägerin zurechenbare Pflichtverletzung, allerdings falle die Interessenabwägung zu Gunsten der Klägerin aus.
 
Unerheblich sei, ob die Klägerin schuldhaft gegen die Pflicht zur Pünktlichkeit verstoßen habe. Die Kündigung sei nämlich schon deshalb unverhältnismäßig, weil die Beklagte kein ordnungsgemäßes Betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt habe.
 
Die Beklagte hätte umfangreicher darlegen müssen, weshalb die Kündigung als letztes Mittel zur Beseitigung der Störungen im Arbeitsverhältnis gerechtfertigt sein soll. Die Gespräche und Maßnahmen der Beklagten beschrieben vor allem eine Erwartungshaltung gegenüber der Klägerin und gerade keine Hilfestellung zur ordnungsgemäßen Bewältigung der Arbeitsleistung.
 
In den Gesprächen sei es ganz überwiegend darum gegangen, dass die Beklagte Verspätungen nicht mehr hinnehmen werde. Der Arbeitsplatz der Klägerin wurde nicht behindertengerecht ausgestaltet, vor allem in Hinblick auf die Arbeitszeit.
 

Interessenabwägung zu Gunsten der Arbeitnehmerin

Nach Auffassung des Gerichts hat die Beklagte nicht alle Möglichkeiten zur Problembehebung ausgeschöpft. Der Gesetzgeber verfolgt aber das Ziel der Inklusion schwerbehinderter Menschen. Außerdem wertete das Gericht die Tatsache, dass die Verspätungen über einen Zeitraum von zwei Jahren nahezu widerspruchslos hingenommen wurden, in der Interessenabwägung zulasten der Beklagten.
 
Auch der Verweis der Beklagten auf die von ihr einzuhaltenden rechtlichen Vorschriften überzeugten das Gericht nicht. So war mit den Verspätungen in der Vergangenheit offenbar gerade keine Beeinträchtigung im Betriebsablauf verbunden. Die Beklagte konnte trotz der Verspätungen also stets den rechtlichen Anforderungen genügen.
 
Letztlich wertete das Gericht auch die lange Betriebszugehörigkeit  - immerhin 27 Jahre  - zugunsten der Klägerin. Der Beklagten war die Schwerbehinderung der Klägerin zudem bereits seit dem Jahr 2000 bekannt.
 
Urteil des Arbeitsgerichts Berlin
 


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Das sagen wir dazu:

Die Entscheidung des Arbeitsgericht Berlin ist völlig richtig. Jedoch muss man bedenken, dass der vom Gericht zu beurteilende Fall nicht verallgemeinerungsfähig ist; man die spezielle Entwicklung des Falles beachten.

Zuspätkommen stellt im Grundsatz eine Pflichtverletzung dar, die nach einschlägiger Abmahnung bei erneutem Vorkommen eine Kündigung rechtfertigen kann. Der Klägerin war es aber objektiv nicht möglich, pünktlich zum Dienst zu erscheinen. Die Beklagte war gehalten, der Klägerin hierbei zu helfen. Dies hat sie nicht getan – daher war die Klage erfolgreich, die Kündigung nicht gerechtfertigt.

Der vorliegende Fall zeigt auch einen weiteren Aspekt: Der gewerkschaftliche Rechtsschutz hilft auch denen, die sich im besonderen Maße nicht mehr selbst zu helfen wissen. Gelebte gewerkschaftliche Solidarität also. Mitglieder einer DGB-Gewerkschaft finden mit ihren Problemen stets einen Ansprechpartner - bei ihrer Gewerkschaft oder auch direkt beim zuständigen Büro der DGB Rechtsschutz GmbH.  


Rechtliche Grundlagen

§ 164 Absatz 4 SGB IX

Pflichten des Arbeitgebers und Rechte schwerbehinderter Menschen

[…]

(4) Die schwerbehinderten Menschen haben gegenüber ihren Arbeitgebern Anspruch auf
1. Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können,
2. bevorzugte Berücksichtigung bei innerbetrieblichen Maßnahmen der beruflichen Bildung zur Förderung ihres beruflichen Fortkommens,
3. Erleichterungen im zumutbaren Umfang zur Teilnahme an außerbetrieblichen Maßnahmen der beruflichen Bildung,
4. behinderungsgerechte Einrichtung und Unterhaltung der Arbeitsstätten einschließlich der Betriebsanlagen, Maschinen und Geräte sowie der Gestaltung der Arbeitsplätze, des Arbeitsumfelds, der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit, unter besonderer Berücksichtigung der Unfallgefahr,