SGB II Sanktionen verfassungswidrig, Dokumentation von Arbeitszeit, kein automatischer Verfall von Urlaub - die wichtigsten Urteile für Beschäftigte. Copyright by Zerbor/Adobe Stock
SGB II Sanktionen verfassungswidrig, Dokumentation von Arbeitszeit, kein automatischer Verfall von Urlaub - die wichtigsten Urteile für Beschäftigte. Copyright by Zerbor/Adobe Stock

Die wichtigsten Entscheidungen der Gerichte des vergangenen Jahres für Beschäftigte und ihre Interessenvertreter.
 

1. Bundesverfassungsgericht beschneidet Hartz IV Sanktionen

Sehnlich erwartet, hat das Bundesverfassungsgericht am 5. November (1 BvL 7/16) seine Entscheidung zur Rechtmäßigkeit von Sanktionen für ALG II-Bezieher gefällt. Die Entscheidung basierte auf einer Richtervorlage des Sozialgerichts Gotha. Das Gericht hielt die Regelung für verfassungswidrig, nach der die Leistungen bis zu 100 Prozent gekürzt werden dürfen, wenn Leistungsbezieher ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen.
 
Das Verfassungsgericht hat in dem Verfahren auch den DGB angehört. Dieser hat die Ansicht vertreten, eine Kürzung sei schon deshalb nicht möglich, weil Hartz IV ohnehin nur das Existenzminimum gewährleiste.
 
Dem folgte das Gericht insofern, als dass es die Sanktionsmöglichkeiten in der gegenwärtigen Form für unverhältnismäßig und mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum unvereinbar erklärte. Der Schutz der Menschenwürde gehe auch bei „unwürdigem“ Verhalten nicht verloren.
 
Gleichwohl hielt es das Gericht grundsätzlich für möglich, Leistungen bei Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht zu kürzen. Die Grenze liege aber bei 30 Prozent, eine darüberhinausgehende Kürzung sei in jedem Fall unverhältnismäßig. Es ist nun Aufgabe des Gesetzgebers, die Vorgaben aus Karlsruhe umzusetzen.
 
Mehr dazu:
Der Gesetzgeber ist bei den Hartz IV-Sanktionen zu weit gegangen
 

2. Europäischer Gerichtshof verpflichtet Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung

Mit Urteil vom 14. Mai hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten aufzuzeichnen. Nur so sei es Arbeitnehmer*innen möglich, ihre Rechte auf Begrenzung der Arbeitszeit, Pausen sowie Vergütung der Überstunden durchsetzen.
 
Bislang war es Aufgabe der Beschäftigten Überstunden nachzuweisen. Die Hürden hierfür waren grade auch im deutschen Recht sehr hoch. Nach Schätzung von Experten fallen allein in Deutschland etwa eine Milliarde unbezahlte Überstunden an.
 
Dieser Praxis schiebt der EuGH nun einen Riegel vor: Es bedürfe eines zuverlässigen Erfassungssystems, damit Arbeitnehmer ihre Rechte nach der Charta und der Arbeitszeitrichtlinie durchzusetzen.
 
Die Entscheidung ist in erster Linie als Auftrag an die Mitgliedstaaten zu verstehen. Ihnen obliege es nun, die Besonderheiten, zum Beispiel bezüglich spezieller Tätigkeitsbereiche und Größe der Unternehmen zu berücksichtigen. Es bleibt daher abzuwarten, welche konkreten Anforderungen im Einzelnen an die Arbeitgeber gestellt werden.
 
Dennoch wird das Urteil es Beschäftigten in Zukunft erleichtern, ihre Überstunden geltend zu machen. Annelie Buntenbach, Mitglied des geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB zeigte sich erfreut: „Das Gericht schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel vor. Permanenter Standby-Modus und Entgrenzung können krank machen, eine Erfassung der Arbeitszeit ist deshalb wichtig, um sie zu beschränken"
 
Mehr dazu:
Europäischer Gerichtshof verpflichtet Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung
 

3. Urlaub verfällt nicht automatisch

Ebenfalls auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zurück geht die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum Verfall von Urlaub. Der EuGH hatte am 6. November 2018 entschieden, dass Urlaub nur verfällt, wenn der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer zuvor auf dieses Risiko hingewiesen hat (C.619/16 und C-684-16).
 
Dem folgend hat das Bundesarbeitsgericht am 19. März 2019 (9 AZR 541/15) entschieden, der Arbeitgeber habe dem Arbeitnehmer klar und rechtzeitig mitzuteilen, dass der Urlaub am Ende des Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums verfallen wird, wenn er nicht genommen wird.
 
Bisher verfiel der Urlaub automatisch am Jahresende, spätestens am 31. März des Folgejahres. Der Arbeitgeber konnte sich seiner Verpflichtungen durch bloßen Zeitablauf entledigen. Das ist nun anders: Wenn er nicht von sich aus tätig wird, bleibt der Urlaub bestehen.
 
Die Entscheidung verbessert insbesondere die Situation der Beschäftigten, die bislang aus Furcht vor Repressionen ihren Urlaub nicht genommen haben: Sie können ihn auch dann noch geltend machen, wenn ihr Arbeitsverhältnis beendet ist, jedenfalls in Form von Abgeltung.
 
Mehr dazu:
Arbeitgeber müssen Arbeitnehmer vor Urlaubsverfall warnen
 

4. Unfallversicherung gilt auch bei Arbeit auf Probe

Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 20. August (B 2 U 1/18 R) die Situation von Beschäftigten verbessert, die im Rahmen eines sogenannten „Einfühlungsverhältnisses“ beschäftigt sind.
 
Diese Konstruktion ist landläufig unter dem Begriff „Arbeit auf Probe“ oder auch „Schnuppertage“ bekannt. Die Rechtsprechung duldet diese Form von Vertrag nur in engen Grenzen, weil der Beschäftigte in dieser Zeit keinen Lohn erhält und auch nicht unter die Sozialversicherung fällt.
 
Mit seinem Urteil hat das Bundessozialgericht dafür gesorgt, dass Probearbeiter wenigstens unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung fallen, wenn sie während des Probearbeitens einen Unfall erleiden. Denn sie sind als "Wie-Beschäftigter" gesetzlich unfallversichert.
 
Die Beschäftigung auf Probe sei einem regulären Beschäftigungsverhältnis zumindest ähnlich, weil in diesem Rahmen Arbeiten mit einen objektiven wirtschaftlichen Wert erbracht werden. Zudem ermögliche das Probearbeiten dem Unternehmer die Auswahl eines geeigneten Bewerbers.
 
Mehr dazu:
Unfallschutz am Schnuppertag
 

5. Kündigung des Chefarztes eines katholischen Klink wegen Wiederheirat diskriminierend

Mit Urteil vom 20. Februar 2019 (2 AZR 746/14) hat das Bundesarbeitsgericht erneut die Kündigung eines Chefarztes in einer katholischen Klinik wegen Wiederheirat als diskriminierend verworfen. Damit geht ein jahrelanger Streit (hoffentlich) zu Ende.
 
Denn es handelt sich um kein Déjà-vu: Dieselbe Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht schon am 8.September 2011 gefällt. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht dieses Urteil mit Beschluss vom 22. Oktober 2014 kassiert und an das BAG zurückverwiesen. Denn staatliche Gerichte dürften die Loyalitätsobliegenheiten in kirchlichen Arbeitsverhältnissen nur eingeschränkt überprüfen.
 
Vor der erneuten Entscheidung legte der erkennende Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts die Sache dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) im Wege der Vorabentscheidung vor. Dieser entschied mit Urteil vom 11. September 2018 und stützte dabei die Ansicht des BAG.
 
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20. Februar 2019 hat über den Fall des Chefarztes hinaus weitgehende Bedeutung. Kirchliche Arbeitgeber müssen künftig darauf achten, welche Loyalitätsanforderungen sie an Mitarbeiter stellen. Damit rüttelt das Bundesarbeitsgericht am Sonderstatus von Kirchen. Eine gute Entwicklung für alle dort Beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denn ihre rechtliche Stellung ist in der Regel schlechter als bei anderen Arbeitgebern.
 
Mehr dazu:
BAG stärkt Rechte von Arbeitnehmer*innen in kirchlichen Einrichtungen
 

6. Erneute Einstellung mit einer sachgrundlosen Befristung

Mit Urteil vom 21. August 2019 (7 AZR 452/17) hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass eine erneute sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrages zwischen denselben Parteien jedenfalls dann möglich ist, wenn zwischen den beiden Verträgen 22 Jahre liegen.
 
Auch diese Entscheidung hat einen langen Vorlauf: Das Bundesarbeitsgericht hatte die Regelung, wonach eine sachgrundlose Befristung beim selben Arbeitgeber unzulässig ist dahingehend ausgelegt, dass zwischen den beiden Arbeitsverhältnissen mindestens drei Jahre liegen müssen (Urteil vom 6. April 2011- 7 AZR 716/097).
 
Diese Rechtsprechung hatte das Bundesverfassungsgericht jedoch für verfassungswidrig erklärt (Beschluss vom 6. Juni 2018 - 1 BvL 7/14, 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14). Dieser Entscheidung lag der Fall eines IG-Metall-Mitglieds zu Grunde, das in allen Instanzen vom gewerkschaftlichen Rechtsschutz vertreten worden war.
 
Das Verfassungsgericht hatte sich in erster Linie an der starren Grenze von drei Jahren gestört, die man aus dem Gesetz so nicht herleiten könne. Eine erneute Befristung nach „sehr langer Zeit“ müsse aber grundsätzlich möglich sein. Mit der aktuellen Entscheidung setzt das BAG diese Rechtsprechung um.
 
Man kann sicher darüber streiten kann, ob 22 Jahre gemessen an einem Erwerbsleben tatsächlich ein sehr langer Zeitraum sind. Aber mit der Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht für Klarheit gesorgt. Zudem hat es seine bisherige Rechtsprechung, nach der schon nach drei Jahren eine sachgrundlose Befristung möglich sein sollte, nun auch selbst offiziell aufgegeben.

Mehr dazu:
Nach 22 Jahren ist wieder eine Befristung ohne Sachgrund möglich
 

7. Jobcenter müssen Kosten von Schulbüchern übernehmen

Schulbücher sind als Mehrbedarf vom Jobcenter zu zahlen. Das hat das Bundessozialgericht in zwei Urteilen vom 8. Mai 2019 entschieden (B 14 AS 13/18 R, B 14 AS 6/18 R). In beiden Fällen ging es um Schülerinnen und Schüler aus Niedersachsen, wo Schüler der Oberstufe Schulbücher selbst anschaffen müssen.
 
Das Bundessozialgericht sah dies Kosten als Härtefall-Mehrbedarf an. Denn der in den Regelbedarf eingeflossene Betrag für Schulbücher sei strukturell zu niedrig für Schüler, die mangels Lernmittelfreiheit in ihrem Bundesland ihre Schulbücher selbst kaufen müssen.
 
Mit seinen Urteilen hat das Bundessozialgericht, wie zuvor auch das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, klargestellt, dass ein höherer Bildungsabschluss nicht daran scheitern darf, dass sich Kinder aus weniger gut betuchten Elternhäusern ihre Schulbücher nicht leisten können. Eine andere Entscheidung wäre auch eines Sozialstaats unwürdig gewesen.
 
Mehr dazu:
Jobcenter muss Schulbücher bezahlen
 

8. Arbeitgeber muss bei rechtswidriger Versetzung Schadensersatz zahlen

Wer rechtswidrig an einen anderen Ort versetzt wird, kann vom Arbeitgeber die hieraus entstehenden Kosten als Schadensersatz verlangen. Dabei ist für Fahrtkosten ein Betrag von 30 Cent pro Kilometer zu Grunde zu legen. Das hat das Bundesarbeitsgericht im Fall eines vom gewerkschaftlichen Rechtsschutz vertretenen IG-Metall-Mitglieds entschieden (Urteil vom 28. November 2919  - 8 AZR 125/18).
 
Das Gewerkschaftsmitglied hatte sich zunächst erfolgreich gegen seine Versetzung gewehrt. Nun forderte es Schadensersatz, weil ihm durch die rechtswidrige Versetzung Kosten entstanden sind, insbesondere für eine Zweitwohnung am 500 Kilometer entfernten Einsatzort und Fahrten dorthin.
 
Das Landesarbeitsgericht Hessen hatte ihm nur die Fahrtkosten zugesprochen, die ihm entstanden wären, wenn er alle zwei Wochen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zweiter Klasse nach Hause gefahren wäre. Das Bundesarbeitsgericht hat in seinem Urteil dagegen klargestellt, dass die tatsächlichen Kosten zu ersetzen sind. Die Höhe von 30 Cent pro gefahrenen Kilometer sei gerechtfertigt.
 
Angelika Kapeller, Prozessbevollmächtigte des Klägers vom Centrum für Revision und Europäisches Recht der DGB Rechtsschutz GmbH, sagt dazu: „Wichtig war, dass sich der Kläger von Anfang an gegen die Versetzung gewehrt hat. Sonst hätte er keinen Schatzersatzanspruch geltend machen können. Denn wer eine Versetzung hinnimmt und erst später seine Kosten geltend machen will, muss damit rechnen, dass ihm entgegengehalten wird, er habe sich damit einverstanden erklärt.“
 
Mehr dazu:
Arbeitgeber muss bei rechtswidriger Versetzung Schadensersatz zahlen
 

9. BAG bestätigt Einsichtsrecht in Gehaltslisten

Eine weitere bislang offene Rechtsfrage hat das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 7. Mai 2019 (1 ABR 53/17) geklärt: Betriebsräte müssen sich nicht mit anonymisierten Lohn- und Gehaltslisten zufrieden geben, sondern haben Anspruch auf den vollständigen Inhalt.
 
Diese Frage war  - auch in Folge des neuen Datenschutzrechts  - umstritten. Es gab diverse Entscheidungen von Landesarbeitsgerichten.
 
Im Fall hatte der Arbeitgeber dem Betriebsrat nur eine Liste zur Verfügung gestellt, in der die Namen der jeweiligen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschwärzt waren. Er berief sich unter anderem darauf, die Weitergabe der Klarnamen stelle einen Verstoß gegen den Datenschutz dar.
 
Dieser Ansicht widersprach das Bundesarbeitsgericht deutlich: Die Einsichtnahme sei datenschutzrechtlich gerechtfertigt, weil dies zur Ausübung oder Erfüllung der sich aus einem Gesetz ergebenden Rechte und Pflichten der Interessenvertretung der Beschäftigten erforderlich ist.
 
Betriebsräte müssen sich vom Arbeitgeber also nicht mit datenschutzrechtlichen Scheinargumenten abspeisen lassen. Sie dürfen und müssen wissen, wer im Betrieb welche Entlohnung erhält. Nur so können sie ihr Amt wirkungsvoll wahrnehmen.
 
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Betriebsrat muss sich nicht mit anonymen Gehaltslisten abspeisen lassen