Spannung liegt in der Luft. Presse, Polizei und Öffentlichkeit bestimmen schon um 9 Uhr morgens das Bild vor dem Bundesverfassungsgericht. 

Auf einem Plakat ist zu lesen: „1000 Glücksvögel gegen den § 31 SGB 2“. Eine Frau erzählt, dass sie beim Warten auf die Entscheidung jeden Tag einen Glücksvogel gemalt hat. 

Das öffentliche Interesse ist groß

Im Saal sind zahlreiche Plätze reserviert für Delegationen der Bundesregierung und Vertreter der Landesregierungen. Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit, lächelt gutgelaunt in die Kamera. Der DGB ist vertreten durch Robert Nazarek von der Abteilung Recht im Bundesvorstand. 

Um fünf Minuten vor 10 Uhr heißt es „Bitte die Plätze einnehmen“. Die letzten Fotos werden gemacht, da dies während der Urteilsverkündung untersagt ist. Man darf auch nicht mehr online gehen. Wer sich nicht daran hält, fliegt raus. Einige Minuten ist es ganz still im Saal. Dann der Ausruf: „Das Bundesverfassungsgericht“ und acht rot gekleidete Richter und Richterinnen betreten den Saal. 

Die Urteilsverkündung

Mit Ungeduld hören die Anwesenden, wie Prof. Dr. Harbarth die Sitzung des ersten Senats eröffnet und die zahlreichen Beteiligten aufruft. Er teilt noch mit, dass das Verfahren auf einen Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Gotha zurückgeht. In diesem Ausgangsverfahren geht es um die Rechtmäßigkeit von Zwangsmaßnahmen des Jobcenters Erfurt.

Dann ist es soweit: Die §§ 31, 31a SGB II sind teilweise verfassungswidrig, verkündet der Vorsitzende des ersten Senats. Bis auf eine einzelne Dame, die mit einer Armbewegung still ihre Freude ausdrückt, gibt es keine Reaktionen. Das Gesicht vom Chef der Arbeitsagentur ist nicht zu sehen. Auch nicht das von Hubertus Heil, auf den jetzt eine Menge Arbeit zukommt. 

Denn die Normen, wonach Bezieher von Arbeitslosengeld II zu sanktionieren sind, wenn sie gegen Mitwirkungspflichten verstoßen, können so nicht bleiben. Der Gesetzgeber muss ran.

Ein kurzer rechtlicher Überblick

Wer Arbeitslosengeld II bezieht und gegen seine Mitwirkungspflichten verstößt, den kann das Jobcenter sanktionieren, indem es die Leistungen kürzt. Ein Verstoß kann sich etwa ergeben, wenn Eigenbemühungen nicht nachgewiesen sind oder ein Jobangebot nicht angenommen wird. 

Das zweite Sozialgesetzbuch (SGB II) regelt in § 31a die Folgen bei Verletzung der Mitwirkungspflichten. Die erste Pflichtverletzung führt zu einer Minderung der Regelleistung um 30%. Beim zweiten Verstoß wird um 60% gekürzt und beim dritten Mal streicht das Jobcenter das Arbeitslosengeld II ganz.

Ein schneller Rückblick

Das Sozialgericht Gotha hält die Sanktionen, die das Existenzminimum kürzen, schon lange für verfassungswidrig. Diese Meinung teilen einige, auch der DGB. Existenzen sind gefährdet, da die Leistungen eh „schon auf Kante genäht sind“. 

Das Sozialgericht Gotha hatte schon einen ersten Versuch beim Bundesverfassungsgericht gestartet. Die Vorlage aus dem Jahr 2015 hatten die Verfassungsrichter als unzulässig abgewiesen. 

Das ist dieses Mal anders. In der Verhandlung im Januar 2019 warfen die Bundesrichter einige Fragen zu den Mitwirkungspflichten, dem Ziel der Sanktionen und dem Schutz von Angehörigen auf. Es war danach davon auszugehen, dass die Regelungen in der jetzigen Form keinen Bestand haben werden.

Die Urteilsbegründung im Überblick

Viele der Fragen aus der mündlichen Verhandlung sind unbeantwortet geblieben. Daran knüpfte das Bundesverfassungsgericht an. Der Gesetzgeber dürfe Mitwirkungspflichten regeln. Er dürfe bei Verletzung dieser Pflichten auch sanktionieren. Darin liege kein Verstoß gegen das Grundgesetz, sondern es entspreche dem Nachranggrundsatz. Danach soll jeder nach Möglichkeit selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen. Der Staat tritt nur ein, wenn das nicht geht.

Aber: In der gesetzlichen Ausgestaltung sind die Sanktionen unverhältnismäßig und mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum unvereinbar. Das machen die Richter*innen vor allem daran fest, dass nicht belegt sei, inwiefern die Kürzungen bzw. Streichung der Leistungen überhaupt geeignet seien, das zu erreichen, was erreicht werden soll. 

Der Schutz der Menschenwürde geht auch bei „unwürdigem“ Verhalten nicht verloren

Gesetzesziel ist, Menschen zurück in Arbeit zu bringen und nicht, sie zu bestrafen oder zu erziehen. Oft haben die Sanktionen nachteilige Wirkungen, vor allem wenn es zu einem Wohnungsverlust führt. Dann fehlt es schon am Ausgangspunkt dafür, seinen Lebensunterhalt selbst verdienen zu können.

Das Gericht sah hier deutlich, welch eine außerordentliche Belastung es für Menschen ist, einen Teil des Existenzminimums zu verlieren. Deshalb dürfen Jobcenter ab sofort Sanktionen nach der zweiten und dritten Stufe nicht mehr verhängen. Das sei unzumutbar. 

Kürzung der Leistungen um 30% sind weiter möglich

Das Bundesverfassungsgericht hat leider die Sanktionen nicht ganz gekippt. Aber auch bei der ersten Stufe können die gesetzlichen Regelungen nicht bleiben, wie sie sind. Die starre und zwingende Ausgestaltung stehe ebenfalls dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum entgegen. Hier müsse der Gesetzgeber dem Jobcenter ein Ermessen einräumen, damit eine Sanktion unterbleibt, wenn sie von vornherein für eine Eingliederung in Arbeit ungeeignet ist. Und es müsse möglich sein, die Sanktion zurückzunehmen, wenn die Mitwirkung nachgeholt wird. Zudem müsse eine Prüfung zu einer außergewöhnlichen Härte erfolgen. Ein Aspekt dabei: Die Bedarfsgemeinschaft wirtschaftet aus einem Topf und Kinder können betroffen sein. 

Ein Ausblick

Der Bundesminister für Arbeit Hubertus Heil hat heute als Vertreter des Gesetzgebers einiges zu tun bekommen. Er begrüßte die Entscheidung auf dem Weg zu sozialem Frieden. Offenbar geht er davon aus, dass die Debatten nun weniger extrem geführt werden können. 

Die Delegierten der Grünen und der Linken betonten, dass die politische Diskussion über eine Sanktionsfreiheit weitergehe. Das Urteil sehen sie positiv, da das Bundesverfassungsgericht damit den aus dem Ruder gelaufenen Sanktionen einen Riegel vorgeschoben habe. „Die Würde des Menschen ist sanktionsfrei und muss nicht erarbeitet werden“. So kann man die Statements zusammenfassen.

Was gilt nun für Betroffene?

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Übergangsregelung erlassen. Bescheide, die bereits bestandskräftig sind, bleiben, wie sie sind. Bescheide, die per Widerspruch oder Klage angegriffen wurden, sind aufzuheben. Bis zur Neuregelung können die Jobcenter die verfassungswidrigen Paragraphen nach Maßgabe des Urteils anwenden. 

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist hier im Volltext nachzulesen.

Lesen Sie zur mündlichen Verhandlung in dieser Sache unseren Beitrag „Verfassungsgericht verhandelt Hartz IV-Sanktionen“

Rechtliche Grundlagen

§§ 31, 31a Sozialgesetzbuch II - Pflichtverletzungen und Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen

Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende
(Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954)

§ 31 Pflichtverletzungen

(1) Erwerbsfähige Leistungsberechtigte verletzen ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis
1. sich weigern, in der Eingliederungsvereinbarung oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach § 15 Absatz 3 Satz 3 festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen,
2. sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit nach § 16d oder ein nach § 16e gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern,
3. eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben.
Dies gilt nicht, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen.
(2) Eine Pflichtverletzung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist auch anzunehmen, wenn
1. sie nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermögen in der Absicht vermindert haben, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung des Arbeitslosengeldes II herbeizuführen,
2. sie trotz Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen,
3. ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht oder erloschen ist, weil die Agentur für Arbeit das Eintreten einer Sperrzeit oder das Erlöschen des Anspruchs nach den Vorschriften des Dritten Buches festgestellt hat, oder
4. sie die im Dritten Buch genannten Voraussetzungen für das Eintreten einer Sperrzeit erfüllen, die das Ruhen oder Erlöschen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründen.

§ 31a Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen

(1) Bei einer Pflichtverletzung nach § 31 mindert sich das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 mindert sich das Arbeitslosengeld II um 60 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt wurde. Sie liegt nicht vor, wenn der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums länger als ein Jahr zurückliegt. Erklären sich erwerbsfähige Leistungsberechtigte nachträglich bereit, ihren Pflichten nachzukommen, kann der zuständige Träger die Minderung der Leistungen nach Satz 3 ab diesem Zeitpunkt auf 60 Prozent des für sie nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs begrenzen.
(2) Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ist das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung nach § 31 auf die für die Bedarfe nach § 22 zu erbringenden Leistungen beschränkt. Bei wiederholter Pflichtverletzung nach § 31 entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Absatz 1 Satz 4 und 5 gilt entsprechend. Erklären sich erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nachträglich bereit, ihren Pflichten nachzukommen, kann der Träger unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles ab diesem Zeitpunkt wieder die für die Bedarfe nach § 22 zu erbringenden Leistungen gewähren.
(3) Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 Prozent des nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs kann der Träger auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Der Träger hat Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn Leistungsberechtigte mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben. Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mindestens 60 Prozent des für den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs soll das Arbeitslosengeld II, soweit es für den Bedarf für Unterkunft und Heizung nach § 22 Absatz 1 erbracht wird, an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte gezahlt werden.
(4) Für nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte gilt Absatz 1 und 3 bei Pflichtverletzungen nach § 31 Absatz 2 Nummer 1 und 2 entsprechend.