Blindengeld erhalten blinde Menschen zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen. Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind gelten auch Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt und Personen, bei denen gleichwertige Störungen des Sehvermögens vorliegen.
Die Klägerin leidet an einer schweren Alzheimer-Demenz und ist nicht mehr in der Lage, körperlich und geistig etwas sinnvoll wahrzunehmen oder zu verarbeiten. Vertreten durch ihren Sohn beantragte sie deshalb Blindengeld und klagte schließlich gegen die Ablehnung.
Blindheit konnte nicht festgestellt werden
Die im Verfahren eingeholten Gutachten wiesen eine Blindheit nicht nach. Der Gutachter im Vorverfahren konnte nur eine Augenuntersuchung durchführen, bei der er unter anderem eine positive Reaktion auf Licht und eine klare Hornhaut feststellte. Die Sehschärfe konnte nicht getestet werden, da die Klägerin nicht in der Lage ist, auf Fragen zu antworten. Auch der vom Sozialgericht Landshut bestellte Sachverständige konnte eine Blindheit nicht belegen. Ein vollständiger Ausfall der Wahrnehmung visueller Reize sei durch die vorliegenden Hirnveränderungen nicht nachzuweisen, so hieß es.
Auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Klägerin wurde ein weiteres neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten erstellt. Auch hier war Ergebnis, dass aus medizinischer Sicht keine Blindheit vorliege. Ferner liege auch keine psychogene Blindheit oder Störung des Erkennens oder Deutens von Sinneseindrücken (Agnosie) vor, denn diese würden ein ausreichendes Bewusstsein voraussetzen. Das sei aber bei der Klägerin aufgrund der schweren Demenz nicht mehr vorhanden.
Verlust der kognitiven Bearbeitung aller einkommenden Informationen
Festgestellt hat der Gutachter den funktionellen Verlust der Kognition. Das betrifft psychische Fähigkeiten wie Gedächtnis, Intelligenz und Sprache sowie Funktionen wie Wahrnehmung und Denken.
Der Verlust der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit reichte den Richtern beim Sozialgericht aber nicht, um den Anspruch auf Blindengeld zu bejahen. Sie wiesen die Klage ab, da keine spezifische Sehstörung vorliege und Blindheit nicht nachgewiesen sei.
Es folgte eine Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG). Dieses wurde zunächst ausgesetzt, weil das Bundessozialgericht bereits mit einem ähnlich gelagerten Fall beschäftigt war.
Landessozialgericht sieht Ausnahmefall wegen hochgradiger Einschränkung aller Sinnesfunktionen
Die LSG-Richter gaben der Berufung statt, änderten also das Urteil ab und sprachen der Klägerin Blindengeld zu.
Sie verwiesen auf ihre Rechtsprechung, wonach in besonderen Ausnahmefällen spezieller Krankheitsbilder die Annahme von Blindheit außerhalb der im Gesetz genannten Fallgruppen möglich ist. Da bei der Klägerin eine hochgradige Einschränkung aller Sinnesfunktionen vorliege, rechtfertige sich die Annahme von Blindheit in diesem Fall.
Dabei könne offen bleiben, ob die Klägerin das Augenlicht vollständig verloren habe. Fest stehe, dass die Fähigkeit zur Verarbeitung im Bewusstsein der Klägerin aufgrund der Demenz aufgehoben sei. Im Falle der Klägerin sei damit der Blindheitsnachweis erbracht.
Bundessozialgericht fordert nicht länger eine spezifische Sehstörung für das Blindengeld
Darauf, ob und inwieweit das visuelle System stärker betroffen ist als die anderen Sinnesmodalitäten, komme es nicht mehr an. Das LSG bezieht sich dafür auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG), das in der Zwischenzeit ergangen war.
Mit dieser Entscheidung aus 2015 hat das BSG seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben. Das oberste Gericht hatte zuvor für den Nachweis einer schweren Störung des Sehvermögens verlangt, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Es hält das Kriterium der spezifischen Sehstörung, also ob der eigentliche Sehvorgang betroffen ist, als Voraussetzung für Anspruch auf Blindengeld für nicht praktikabel.
Schwerst hirngeschädigte Kinder nicht länger vom Blindengeld ausgeschlossen
Eine der Blindheit entsprechende gleich schwere cerebrale Störung des Sehvermögens setzt keine spezifische Sehstörung voraus, so der Leitsatz zum BSG-Urteil. Mit der Entscheidung werden schwerst hirngeschädigte Kinder nicht länger vom Blindengeld ausgeschlossen.
Zu dem Urteil sind die Richter aus zwei Gründen gelangt: Viele Verfahren in denen es um Blindengeld geht, hätten gezeigt, dass gerade bei mehrfach schwerstbehinderten Kindern eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch kaum verlässlich festzustellen ist. Das deshalb nicht praktikable Kriterium der spezifischen Sehstörung führe zur Erhöhung des Risikos von Zufallsergebnissen.
Neben den praktischen Gründen gab es einen gewichtigeren Grund, nämlich die Gleichbehandlung behinderter Menschen nach dem Grundgesetz. Unter diesem Aspekt ergebe sich keine Rechtfertigung mehr für das zusätzliche Erfordernis der spezifischen Sehstörung.
Revision zum Bundessozialgericht zugelassen
Wegen grundsätzlicher Bedeutung ist die Revision zugelassen worden. Gemessen an der Rechtsprechung des BSG zum Blindengeld bei schweren Hirnschädigungen, gehen wir nicht davon aus, dass die Entscheidung des Bayerischen LSG abgeändert werden wird. Auf jedem Fall ist dies zu hoffen, denn von Demenzerkrankungen Betroffene (Erkrankte und Angehörige) sind auch schon ohne Auseinandersetzungen mit Behörden wegen irgendwelcher Leistungen gebeutelt genug. Deshalb wäre es zu begrüßen, wenn diese Frage endgültig und zugunsten der an Demenz Erkrankten geklärt wird. Auch wenn die Entscheidung zum Bayerischen Blindengeldgesetz ergangen ist, gilt sie bundesweit. Denn die Regelung zum Begriff „blind“ ist in den Blindengeldgesetzen der einzelnen Bundesländer gleich.
Hier geht es zum Urteil des bayerischen Landessozialgerichts.
Das Bayerische Blindengeldgesetz kann hier eingesehen werden.