

Behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50 können bei der Bundesagentur für Arbeit einen Antrag stellen, mit einem schwer behinderten Menschen gleichgestellt zu werden. Nach dem Gesetz genießen nur Schwerbehinderte bestimmte Schutzrechte. So muss der Arbeitgeber nur bei Schwerbehinderten vor Ausspruch einer Kündigung das Integrationsamt um Erlaubnis fragen und die Schwerbehindertenvertretung vor bestimmten Maßnahmen wie Kündigung oder Umsetzung beteiligen. Für behinderte Menschen ist daher die Gleichstellung von großer praktischer Bedeutung.
Entscheidung der Bundesagentur wirkt grundsätzlich rückwirkend
Wenn die Bundesagentur für Arbeit über diesen Antrag positiv entschieden hat, wirkt die Gleichstellung auf den Tag des Eingangs des Antrags zurück. Das bedeutet, dass der Antragsteller ab Antragstellung als Schwerbehinderter gilt. Da wäre es konsequent, wenn der Arbeitgeber ab dem Tag der Antragstellung die Schwerbehindertenvertretung beteiligt, wenn er Maßnahmen vorhat, die den/die Behinderte*n betreffen.
Arbeitsgericht Berlin: Arbeitgeber muss Schwerbehindertenvertretung vorsorglich beteiligen
So sah es auch das Arbeitsgericht Berlin, das über den Antrag einer Schwerbehindertenvertretung entscheiden musste. In diesem Verfahren hatte eine behinderte Arbeitnehmerin bei der Bundesagentur für Arbeit einen Antrag auf Gleichstellung gestellt und ihren Arbeitgeber darüber informiert.
Ein Jahr später erhielt sie die Gleichstellung. Noch bevor die Bundesagentur über ihren Antrag entschieden hatte, setzte der Arbeitgeber die Beschäftigte in ein anderes Team um, ohne zuvor die Schwerbehindertenvertretung unterrichtet und angehört zu haben.
Die Schwerbehindertenvertretung des Betriebes der Arbeitnehmerin wollte sich das nicht gefallen lassen und stellte daher beim Arbeitsgericht Berlin den Antrag, dass der Arbeitgeber sie vor der Umsetzungsmaßnahme vorsorglich hätte beteiligen müssen.
Das Arbeitsgericht gab ihr recht. Seiner Auffassung nach muss der Schutz schwerbehinderter Menschen schon dann gewährleistet werden, wenn ein Antrag auf Gleichstellung vorliegt und der Arbeitgeber das weiß. Ansonsten sei das Arbeitsverhältnis gefährdet, da der Arbeitgeber ungehindert Maßnahmen durchsetzen könne, ohne die Schwerbehindertenvertretung beteiligen zu müssen.
Bundesarbeitsgericht: keine vorsorgliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung
Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg und schließlich auch das Bundesarbeitsgericht entschieden jedoch anders. Nach ihrer Auffassung muss der Arbeitgeber erst dann die Schwerbehindertenvertretung beteiligen, wenn der Gleichstellungsbescheid vorliegt.
Das ergebe sich aus der gesetzlichen Regelung, nach der der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung nur beteiligen müsse, wenn die Belange von Schwerbehinderten betroffen seien. Wenn der Gesetzgeber gewollt hätte, dass der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung auch dann heranziehen müsse., wenn der Status des Beschäftigten noch nicht geklärt ist, hätte er das ausdrücklich anordnen müssen. Das sei aber nicht der Fall.
Der Antrag der Schwerbehindertenvertretung wurde daher zurückgewiesen.
Hier gehts zur Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts
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Diese Entscheidung zeigt, dass der Schutz behinderter Menschen in Deutschland nach wie vor lückenhaft ist.
Nach der EU-Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung von Behinderten müssen die nationalen Gesetzgeber geeignete Maßnahmen treffen, um eine Eingliederung behinderter Menschen zu gewährleisten.
EU-Richtlinie nicht ausreichend umgesetzt
Der deutsche Gesetzgeber behauptet, dass er dieser Verpflichtung durch die gesetzlichen Regelungen im SGB IX nachgekommen sei. Allerdings werden durch diese Regeln nahezu ausschließlich schwerbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von 50 oder mehr geschützt, da nur in diesem Fall das Integrationsamt und die Schwerbehindertenvertretung für sie zuständig ist.
Einen objektiven Grund, warum Behinderte mit einen Grad der Behinderung von weniger als 50 weniger schutzbedürftig sein sollen, gibt es nicht. Die EU-Richtlinie und auch das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006 (UN-BRK) wollen die Integration aller behinderten Menschen fördern, nicht nur die der Schwerbehinderten.
Natürlich können Betroffene einen Antrag auf Gleichstellung bei der zuständigen Bundesagentur stellen, aber dies hilft den Betroffenen nur bedingt weiter: Zum einen ist das kein Selbstläufer, weil die Bundesagentur für Arbeit eigene Kriterien für eine Anerkennung aufstellt, die in vielen Fällen nicht erfüllt werden. Zum anderen zeigt der oben stehende Fall, dass es durchaus eine Weile dauern kann, bis die Bundesagentur darüber entscheidet. Bis dahin ist der Arbeitnehmer schutzlos.
Abgesehen davon stellt sich die Frage, warum dann der Gesetzgeber die rückwirkende Wirkung von Gleichstellungsbescheiden angeordnet hat. Wenn das Bundesarbeitsgericht recht hätte, würde diese Vorschrift ins Leere laufen. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich das Bundesarbeitsgericht damit in seinen Entscheidungsgründen auseinandersetzen wird.
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