War es ein Unfall oder doch nur eine sogenannte Gelegenheitsursache? Das musste das Sozialgericht Ulm entscheiden. Copyright by Adobe Stock/Anut21ng Photo
War es ein Unfall oder doch nur eine sogenannte Gelegenheitsursache? Das musste das Sozialgericht Ulm entscheiden. Copyright by Adobe Stock/Anut21ng Photo

Bereits im Alter von 33 Jahren erhielt der Kläger eine Kreuzbandplastik im rechten Kniegelenk. Beschwerden hatte er anschließend nicht mehr. Fast 20 Jahre später traten bei der Arbeit erneut Schmerzen auf. Der Kläger musste seine Tätigkeit sofort einstellen. Ein Rettungswagen brachte ihn ins Krankenhaus.
 

Der Kläger schilderte den Unfall unterschiedlich

Die Ärzte befragten den Kläger schon in der Notaufnahme zum Hergang des Unfalls. Hier gab der Kläger an, er habe eine schwere Kiste gehoben und danach sofort Schmerzen im rechten Kniegelenk verspürt.
 
Später wies er darauf hin, er habe sich das rechte Knie verdreht als er Briefbehälter anheben wollte. Die Verdrehung sei aus einer Bewegung heraus geschehen. Äußere Einwirkungen auf das Knie habe es nicht gegeben.
 

In einem Befundbericht wird ein Wegrutschen beschrieben

Es gab einen Befundbericht, in dem es hieß, der Kläger sei beim Tragen befüllter Kisten gestolpert und habe sich das rechte Knie verdreht. Bereits einen Tag nach dem Unfall beschrieb ein Arzt eine Situation, in der dem Kläger das rechte Bein weggerutscht sein sollte.
 
Aufgrund der Beschwerden unterzog sich der Klägerschließlich einer Operation. Die Ärzte setzten ihm eine neue Kreuzbandplastik ein.
 

Die Berufsgenossenschaft legte die ersten Angaben des Klägers bei ihrer Entscheidung zugrunde

Der Kläger machte gegenüber der Berufsgenossenschaft eine Entschädigung geltend. Er habe einen Arbeitsunfall erlitten. Die BG lehnte die Anerkennung jedoch ab. Sie legte ihrer Entscheidung die ersten Schilderungen des Klägers zum Hergang des Ereignisses zugrunde.
 
Danach habe es keine plötzliche und unerwartete äußere Einwirkung auf das Kniegelenk gegeben. Der Kläger weise im Übrigen einen Vorschaden am Kniegelenk auf.
 
Das Ereignis sei aufgrund des vom Kläger geschilderten Hergangs auch nicht dazu geeignet, einen Riss der vorderen Kreuzbandplastik hervorzurufen.
 

Bettina Krämer vom DGB Rechtsschutzbüro Ulm vertrat den Kläger im Verfahren

Bettina Krämer vom DGB Rechtsschutzbüro Ulm erhob Klage gegen die Entscheidung der Berufsgenossenschaft. Das Gericht wertete im Verfahren viele Befundberichte und Gutachten aus. Es hörte den Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung zum Unfallhergang außerdem noch einmal ausführlich an.
 
Zu Unrecht habe die Beklagte die Anerkennung der Verletzung des Kreuzbandes als Unfallfolge abgelehnt, so das Sozialgericht. Aus dem Gerichtsgutachten ergebe sich nämlich, dass das Ereignis wesentliche Ursache für den Riss der vorderen Kreuzbandplastik gewesen sei.
 

Der Riss des Kreuzbandes war frisch

Der Kläger habe nämlich von Beginn an über Schmerzen geklagt. Dies ergebe sich schon aus dem Erstbefund in der Notfallaufnahme. Die Ärzte hätten eine Knieschwellung und Bewegungseinschränkungen festgestellt.
 
Der Kläger habe auch sofort seine Arbeit einstellen müssen. Die erhobenen Befunde hätten schließlich bestätigt, dass der Kläger unmittelbar zuvor eine frische Ruptur des Kreuzbandes erlitten habe.
 
Einen Zusammenhang zwischen dem Ereignis und den Beschwerden gebe es deshalb. Sozialrechtlich müsse aber feststehen, ob dieses Ereignis auch eine wesentliche Ursache für den Körperschaden darstelle. Bestehe ein Vorschaden, müsse die Ursache des Körperschadens  genau geprüft werden.
 

Der Vorschaden des Klägers hatte keine überragende Bedeutung

Die bereits vorhandene Kreuzbandplastik des Klägers sei ein Vorschaden. Dieser Vorschaden habe aber keine überragende Bedeutung für den Riss des Kreuzbandes gehabt. Die Gutachter hätten festgestellt, dass nicht jedes andere, alltägliche Ereigniss zu demselben Riss des Kreuzbandes geführt hätte.
 
Das Gericht gehe davon aus, dass sich der Kläger beim Gehen das rechte Kniegelenk verdreht habe. Er sei dabei mit dem Bein weggerutscht. Bestätigt werde das durch überzeugenden Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Nach Auffassung der Beklagten fehle es in der ursprünglichen Unfallschilderung des Klägers zwar an einem Hinweis darauf, dass er auch weggerutscht sei. Das führe jedoch zu keinen rechtlichen Zweifeln.
 

Der Kläger präzisierte seine Angaben später

Es treffe zu, dass der Kläger anfangs keine präzisen Angaben gemacht habe. Die Schilderung, er habe sich das Kniegelenk verdreht und sei anschließend weggerutscht, finde sich in einem Befundbericht vom Tag nach dem Unfall. Anlässlich späterer Untersuchungen habe der Kläger identische Angaben gemacht, insbesondere auch beim Gerichtsgutachter. Daran orientiere sich das Gericht.
 
Die sogenannten Erstangaben eines Versicherten hätten im Übrigen auch keinen höheren Beweiswert als dessen spätere Beschreibungen. Das habe das Bundessozialgericht ebenfalls schon so entschieden.
 

Gerichte müssen alle Umstände des Einzelfalls betrachten

Das Bundessozialgericht stellte fest, dass es dementsprechende Beweisregeln weder im Sozialrecht noch im Zivilrecht gebe. Das Gericht müsse vielmehr im Rahmen der freien Beweiswürdigung alle Aussagen und Angaben würdigen.
 
Der Beweiswert einer Erklärung könne nicht allein nach dem zeitlichen Abstand von dem Ereignis beurteilt werden, auf das sie sich beziehe. Das Gericht müsse alle Umstände des Einzelfalles betrachten. Dann könne es entscheiden, welchen Ausführungen es folgen wolle. Das seien nicht immer die ersten Angaben zu einem Ereignis.
 

Das Gericht entschied zu Gunsten des Klägers

Im Fall des Klägers stellte das Sozialgericht fest, dass der vom Kläger angegebene Unfallmechanismus medizinisch dazu geeignet ist, den geltend gemachten Körperschaden hervorzurufen. Dies ergebe sich aus der gängigen medizinischen Literatur.
 
Es folgte außerdem der späteren Schilderung des Klägers zum Unfallhergang. Für das Gericht bestand kein Zweifel daran, dass der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten hatte, der auch zu einem Körperschaden in Form eines Kreuzbandrisses führte. 

Sozialgericht Ulm, Urteil vom 10. Dezember 2020

BSG, Urteil vom 11. November 2003

Das sagen wir dazu:

Eigentlich gibt es hierzu nur eines zu sagen: Auch wenn es weh tut - die Angaben bei der Erstuntersuchung sollten möglichst präzise sein. Sonst kann es schwierig werden.

Wir hatten zu diesem Thema schon berichtet:

Kein Arbeitsunfall bei fehlendem Ursachenzusammenhang

Die Prozessbevollmächtigte des Verfahrens, Bettina Krämer vom DGB Rechtsschutzbüro Ulm, weist im Zusammenhang mit dieser Entscheidung daraufhin, dass Versicherten bei der Frage, was geschehen ist, schon von Anfang an Wert darauf legen müssen, dass ihre Angaben richtig dokumentiert werden.

In diesem Verfahren habe das Gericht die Beklagte in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Erstangaben des Klägers keinen höheren Beweiswert hätten, als die späteren Angaben. Dennoch sei es natürlich schwer, von einmal gemachten Schilderungen wieder wegzukommen.

Durchgangsärzte schrieben leider immer nur wenige Sätze zum Unfallhergang. Berufsgenossenschaften hörten die Betroffenen zwar an und ließen sich mit einem Formular kurz schildern, was geschehen sei. Dieses Formular werde aber oft falsch ausgefüllt, weil Versicherte nicht alles verstehen, was abgefragt werde.

Daher auch von uns noch einmal ausdrücklich der Tipp:
machen Sie präzise Angaben zum Unfall und achten Sie darauf, dass diese auch richtig dokumentiert werden.