Wenn der EuGH die Vorschläge des Generalanwalts umsetzt, würde dies eine für Arbeitnehmer günstige Änderung des deutschen Urlaubsrechts bedeuten. Copyright by pixelkorn/fotolia
Wenn der EuGH die Vorschläge des Generalanwalts umsetzt, würde dies eine für Arbeitnehmer günstige Änderung des deutschen Urlaubsrechts bedeuten. Copyright by pixelkorn/fotolia

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) und das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg haben dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Fragen zum Urlaubsrecht vorgelegt. Zu beiden Fragen muss der EuGH noch entscheiden. Es liegt aber bereits die Stellungnahme des Generalanwalts vor, die eine Antwort des Gerichtshofs zu Gunsten von Arbeitnehmer*innen erwarten lässt.
 

Bedeutung des Vorschlags des Generalanwalts

Generalanwälte unterstützen den Gerichtshof bei seinen Entscheidungen. Sie schlagen ihm ein Urteil vor. Daran ist der Gerichtshof nicht gebunden. Häufig (ca. zu ¾ der Fälle) folgt das Gericht allerdings dem Vorschlag. Dieser Vorschlag des Generalanwalts wird „Schlussantrag“ genannt.
 
Die Zahl der Generalanwälte ist im Oktober 2015 von 8 auf 11 erhöht worden. Sie werden durch einstimmigen Beschluss der Mitgliedsländer der EU ernannt. Die großen Länder wie Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Spanien und (noch) Großbritannien sind immer im Kreis der Generalanwälte vertreten, die kleinen Länder wechseln sich ab. Die deutsche Generalanwältin ist zurzeit Juliane Kokott. Der Generalanwalt, der zum Urlaubsrecht Stellung genommen hat, ist Yves Bot aus Frankreich.
 

Generalanwalt: Urlaubanspruch ist vererbbar

Generalanwalt Bot sieht die Vererbbarkeit von Urlaubsansprüchen anders als das BAG. Seiner Ansicht nach können Erben eines verstorbenen Arbeitnehmers finanzielle Vergütung verlangen für Urlaubstage, die der Verstorbene bisher im Arbeitsverhältnis nicht nehmen konnte.
Dabei können sich die Erben sowohl gegenüber einem öffentlichen als auch einem privaten Arbeitgeber auf europäisches Recht berufen.
 

BAG: Erben können keine finanzielle Vergütung des Urlaubs verlangen

Im noch bestehenden Arbeitsverhältnis können Arbeitnehmer*innen den Urlaub nicht ausbezahlt bekommen. Sie können nur beanspruchen, von der Arbeit befreit zu werden, damit sie Urlaub machen können. Ist das Arbeitsverhältnis allerdings beendet, tritt an die Stelle des „Urlaub-Nehmens“ die Vergütung der Urlaubstage.
 
Im Fall des Todes können nach Auffassung des BAG Arbeitnehmer*innen keinen Urlaubsanspruch mehr erwerben. Denn der Urlaub ist ein an die Person des Arbeitnehmers gebundener Anspruch. Stirbt der Arbeitnehmer daher vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses, kann der Arbeitgeber den Urlaubsanspruch auch nicht mehr erfüllen. Ein nicht bestehender Urlaubsanspruch kann sich nicht in einen Geldanspruch umwandeln, den Angehörige des Verstorbenen erben könnten.
Das BAG entscheidet anders, wenn der Arbeitnehmer nach Ende des Arbeitsverhältnisses stirbt. Denn dann hatte er schon einen wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses erworbenen finanziellen Urlaubsanspruch. Diesen können Angehörige dann auch erben.
 

Generalanwalt Bot: Die Rechtsprechung des BAG ist mit europäischen Recht nicht vereinbar

Der Generalanwalt ist der Auffassung, dass nach europäischem Recht der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht untergehen darf, wenn das Arbeitsverhältnis mit dem Tod eines Arbeitnehmers endet. Er stützt sich dabei auf die Arbeitszeitrichtlinie und auf die Grundrechtecharta. Voraussetzung für den Anspruch ist nur, dass das Arbeitsverhältnis beendet ist und noch Urlaubsansprüche offen sind.
 

Folgen für das deutsche Urlaubsrecht

Zunächst einmal ändert sich mit der Stellungnahme des Generalanwalts noch nichts. Erst müsste im gleichen Sinne auch der EuGH entscheiden.
 
Dann aber müsste das BAG das Bundesurlaubsgesetz entsprechend den Vorgaben des EuGH anders als bisher auslegen. Wenn es meint, das könne es nicht, weil die deutsche Regelung nicht anders verstanden werden kann, dürfte es die deutsche Urlaubsregelung nicht anwenden.
 

Arbeitnehmer*innen können ihre Ansprüche unmittelbar auf europäisches Recht stützen.

Arbeitnehmer*innen können Urlaubsansprüche sowohl gegenüber öffentlichen wie privaten Arbeitgebern verlangen. Hier betritt der Generalanwalt „Neuland“. Er sieht nämlich den Anspruch auf Jahresurlaub nicht nur als besonderen sozialen Grundsatz; er meint darüber hinaus, dass der Anspruch auf Jahresurlaub auch ein in der Grundrechtecharta (Artikel 31 Absatz 2) verankertes vollwertiges soziales Grundrecht ist.
 
Für den Fall, dass der Gerichtshof sich dem anschließt, könnten Arbeitnehmer*innen sich zukünftig auf dieses Recht auch im Verhältnis zu ihren privaten Arbeitgebern unmittelbar berufen.
 

Verantwortung des Arbeitgebers für den Urlaub der Beschäftigten

Generalanwalt Bot hat auch in den weiteren Vorlagefragen eine Entscheidung des EuGH zu Gunsten europäischer Arbeitnehmer*innen vorgeschlagen: Er hat angenommen, dass Arbeitgeber dafür sorgen müssen, dass ihre Beschäftigten Urlaub auch tatsächlich nehmen können. Tun sie das nicht, verfällt der Urlaub nicht.
 

BAG: Arbeitnehmer*innen müssen für ihren Urlaub selbst sorgen

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts müssen Arbeitnehmer*innen ihren Urlaub beim Arbeitgeber rechtzeitig beantragen. Tun sie das nicht oder können einen entsprechenden Antrag nicht nachweisen, verfällt der Urlaub nach dem Kalenderjahr bzw. in der Regel bis zum 31.März des Folgejahres.
 
Im Konfliktfall müssen Arbeitnehmer*innen darstellen, wem gegenüber und wann sie Urlaub verlangt haben. Um den Verfall des Urlaubs zu verhindern, reicht auch nicht aus vorzutragen, im Betrieb komme es immer wieder vor, dass man selbst und Arbeitskollegen Urlaub nicht vollständig nehmen konnten und der Urlaub dann unbegrenzt ins nächste Jahr übertragen wurde (BAG 21.6.2005, 9 AZR 200/04).
 

Nach europäischem Recht kein Urlaubsantrag erforderlich

Im Unterschied zur Rechtsprechung des BAG geht nach Auffassung des Generalanwalts Bot der Urlaubsanspruch nicht automatisch verloren, wenn ein Arbeitnehmer den Urlaub nicht rechtzeitig beantragt hat.
 
Das gilt entsprechend auch für die finanzielle Vergütung des Urlaubs im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
 

Arbeitgeber muss nachweisen, dass er alles getan hat, um den Urlaub zu ermöglichen

Dazu muss er vortragen, welche geeigneten Maßnahmen er ergriffen hat, damit seine Beschäftigten auch in der Lage waren, ihren jährlichen Erholungsurlaub zu nehmen. Er muss außerdem nachweisen, dass er sie darauf hingewiesen hat, dass sie ihren Urlaub rechtzeitig nehmen müssen, da andernfalls Verfall drohen kann.
 
Nur dann, wenn ein Arbeitnehmer trotz dieser Hinweise freiwillig und auf eigenen Wunsch auf seinen jährlichen Urlaub verzichten sollte, endet die Verpflichtung des Arbeitgebers. Nur in diesem Fall muss der Arbeitgeber keinen Urlaub mehr außerhalb des Bezugszeitraums gewähren und bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch nicht finanziell abgelten.
 

Generalanwalt stützt sich auf Arbeitszeitrichtlinie und Grundrechtecharta

Die besondere Verantwortung des Arbeitgebers für den Urlaubsanspruch seiner Beschäftigten leitet der Generalanwalt aus der Arbeitszeitrichtlinie (Artikel 7) und der Grundrechtecharta (Artikel 31 Absatz 2) ab.
Die europäischen Vorschriften schützen Gesundheit und Sicherheit und umschreiben wichtige soziale Grundrechte. Ihre Einhaltung liegt nicht nur im Interesse des Einzelnen, sondern auch im Interesse der Allgemeinheit.
 

Sorgt sich der Arbeitgeber nicht um den Urlaub  - kein Verfall von Urlaubsansprüchen

In einem früheren Verfahren hatte der Gerichtshof entschieden, dass Arbeitnehmer*innen, die länger erkranken, ihren Urlaub aus den Vorjahren nicht verlieren. Er hatte es jedoch zugelassen, dass der Anspruch auf 15 Monate begrenzt wird.
 
Anders soll es sich mit dem Urlaubsanspruch verhalten, den Arbeitnehmer*innen nur deshalb nicht realisieren konnten, weil der Arbeitgeber nicht alles dafür getan hat, dass der Urlaub rechtzeitig genommen werden kann. Hier bleibt der Anspruch unbegrenzt erhalten. Der Generalanwalt begründet das damit, dass anders als bei einer Erkrankung der Arbeitgeber es in der Hand hat, für die Erfüllung von Urlaubsansprüchen im jeweiligen Kalenderjahr zu sorgen. Er soll also nicht davon profitieren können, wenn er seiner Verantwortung nicht gerecht wird.
 

Der Vorschlag des Generalanwalts bezieht sich auf zwei Fälle:

Im ersten Fall geht es um einen Rechtsreferendar (Herrn Kreuziger), der beim Land Berlin beschäftigt war. Er verlangte eine finanzielle Vergütung für seinen in den letzten 5 Monaten seines Referendariats nicht genommenen Jahresurlaub. Der Antrag wurde unter anderem mit der Begründung abgelehnt, dass die Verordnung über den Erholungsurlaub der Beamten und Richter einen solchen Abgeltungsanspruch nicht vorsehe. Nach dieser Regelung erlischt der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub am Ende des Bezugszeitraums, wenn der Arbeitnehmer innerhalb dieses Zeitraums keinen Urlaubsantrag gestellt hat. Dieses Erlöschen hat dann auch den Verlust des Anspruchs auf Urlaubsabgeltung zur Folge.
 
Im zweiten Fall geht es um einen seit über 10 Jahre bei der Max-Planck-Gesellschaft befristet Beschäftigten, Herrn Tetsuji Shimizu. Am 23.10.2013 erfuhr Herr Shimizu, dass sein Arbeitsvertrag nicht verlängert werde. Gleichzeitig forderte die Gesellschaft ihn auf, vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses Ende Dezember 2013 seinen gesamten Resturlaub zu nehmen. Da Herr Shimizu bis zum Ablauf dieser Frist nur 2 Tage Urlaub genommen hatte, forderte er seine Arbeitgeberin zur Zahlung einer Abgeltung für 51 nicht genommene Urlaubstage aus den letzten 2 Jahren auf.
Das BAG ist der Auffassung, dass Herr Shimizu nach dem Bundesurlaubsgesetz unter Angabe seiner Wünsche den Resturlaub hätte beantragen müssen, um ihn zu erhalten. Ansonsten gehe der Urlaubsanspruch mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses (31.12.2013) ersatzlos unter.
 

Fälle könnten unterschiedlich zu sehen sein

Dem Vorschlag des Generalanwalts ist zu entnehmen, dass beide Fälle eventuell unterschiedlich zu beurteilen sind.
Bei Herrn Kreuziger hält der Generalanwalt für möglich, dass dieser auf eigenen Wunsch den Urlaub zurückstellen wollte, bis er seine mündliche Staatsprüfung abgelegt hat.
Im Fall von Herrn Shimizu dagegen betont der Generalanwalt, dass allein die Aufforderung der Arbeitgeberin am 23.10.2013, den Urlaub nun bis 31.12.2013 zu nehmen, nicht ausreicht. Dieses Verlangen sei zu spät gestellt worden.
 

Beide Kläger können sich unmittelbar auf europäisches Recht stützen

Der Generalanwalt ist der Auffassung, dass sich der Anspruch auf Jahresurlaub auch unmittelbar aus der Grundrechtecharta ergibt. Aus diesem Grund könnte auch Herr Shimizu, der bei einem privaten Arbeitgeber beschäftigt war, seinen Anspruch unmittelbar auf europäisches Recht stützen.
 

Erwartung, dass EuGH wie der Generalanwalt entscheidet

Der Gerichtshof hatte bereits in einem britischen Fall entschieden, dass der Arbeitgeber dafür verantwortlich ist, dass Beschäftigte ihren Urlaub auch tatsächlich nehmen können (siehe die Sache King, EuGH Urteil vom 29.11.2017, C-214/16, wir berichteten).
Dort bereits stellte der EuGH klar, dass es für den Anspruch irrelevant ist, ob Arbeitnehmer*innen im Laufe der Jahre bezahlten Jahresurlaub beantragt haben oder nicht.
 
Da sich der Generalanwalt mit seinem Vorschlag an die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs anlehnt, besteht die begründete Hoffnung, dass der Gerichtshof sich seiner Auffassung in den deutschen Vorlagefällen anschließen wird.

Mehr zum europäischen Urlaubsfall King können Sie hier erfahren:

Arbeitgeber müssen dafür sorgen, dass Beschäftigte bezahlten Urlaub nehmen können


Hier noch ein interessanter Beitrag zum europäischen Arbeitsrecht:

Gewerkschaftliches Centrum gewinnt vor dem Europäischen Gerichtshof

Das sagen wir dazu:

Folgt der Gerichtshof den Vorschlägen des Generalanwalts wird das deutsche Urlaubsrecht ein weiteres Mal in Bewegung geraten:

  • Arbeitnehmer*innen können sich bei der Geltendmachung ihres gesetzlichen Mindest-Jahresurlaubs von 4 Wochen unmittelbar auf europäisches Recht stützen.
  • Stirbt ein Arbeitnehmer im noch bestehenden Arbeitsverhältnis, steht den Erben finanzielle Vergütung für noch nicht erfüllte Urlaubsansprüche zu.
  • Der Arbeitgeber muss geeignete Maßnahmen ergreifen, damit Arbeitnehmer*innen ihren Urlaub auch tatsächlich rechtzeitig nehmen können. Kann der Arbeitgeber nicht nachweisen, dass er alles für die Erfüllung des Urlaubsanspruchs seiner Beschäftigten getan hat, bleibt der Anspruch unbegrenzt bestehen. Darauf, ob der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch rechtzeitig geltend gemacht hat, kommt es nicht an.

 

Chance auf tatsächliche Inanspruchnahme von Urlaub im Kalenderjahr wächst

Wenn der Arbeitgeber künftig sehr viel stärker für das tatsächliche Nehmen von Urlaub verantwortlich ist, besteht die Chance, dass weniger Arbeitnehmer*innen ihren Urlaub auf Kosten der Gesundheit immer wieder herausschieben. Künftig könnten nämlich Arbeitgeber nicht mehr davon profitieren, dass Arbeitnehmer*innen auf Urlaub zu Gunsten (vermeintlicher) betrieblicher Interessen verzichten.

Wenn der Urlaubsanspruch in Zukunft kaum noch verfällt, besteht für den Arbeitgeber das Risiko, dass Arbeitnehmer*innen spätestens bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses finanzielle Abgeltung für nicht erfüllte Urlaubsansprüche verlangen. Die damit verbundenen Zahlungsansprüche können sogar eine Höhe erreichen, die den Arbeitgeber zu Rückstellungen in der Bilanz zwingt. Auch deshalb wird ein Arbeitgeber zukünftig weitaus seltener seine Beschäftigten von der jährlichen Urlaubnahme abhalten. Damit leistet europäisches Urlaubsrecht erneut einen wertvollen Beitrag zu mehr Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz.

Rechtliche Grundlagen

Art. 31 Charta der Grundrechte der Europäischen Union / Art. 7 Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG)

Art. 31 Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
(1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
(2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.

Artikel 7 Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.