Wer darf den Wahlvorstand bestellen, wenn es aus Gründen des Infektionsschutzes keine Betriebsversammlung geben darf? Copyright by Adobe Stock/alphaspirit
Wer darf den Wahlvorstand bestellen, wenn es aus Gründen des Infektionsschutzes keine Betriebsversammlung geben darf? Copyright by Adobe Stock/alphaspirit

Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt beabsichtigte, in einem saarländischen Unternehmen eine Betriebsratswahl durchzuführen. Bislang gab es den dort nicht. Dem Arbeitgeber machte sie deshalb das Angebot, ein Gespräch darüber zu führen, einen Wahlvorstand einzusetzen. Der Arbeitgeber lehnte ab.
 

Der DGB Rechtsschutz ruft das Arbeitsgericht Saarland an

Thomas Bardo vom DGB Rechtsschutz in Saarbrücken erhielt den Auftrag, das Verfahren beim Gericht weiter zu führen. Er beantragte beim Arbeitsgericht, einen Wahlvorstand einzusetzen. Fünf Arbeitnehmer*innen standen dafür zur Verfügung.
 
Zwar setze die Bestellung eines Wahlvorstandes durch das Arbeitsgericht voraus, dass der Versuch, einen Wahlvorstand in einer Betriebsversammlung einzusetzen, erfolglos geblieben sei. Während der Pandemie seien im Saarland jedoch Zusammenkünfte in geschlossenen Räumlichkeiten hinsichtlich der Personenzahl begrenzt. Daher dürfe eine Betriebsversammlung überhaupt nicht stattfinden.
 

Wahlversammlungen sind online nicht möglich

Auch eine Videokonferenz sei nicht statthaft. Dem stehe das Betriebsverfassungsgesetz entgegen. Zwar gebe es die Möglichkeit der Videokonferenz, diese sei aber für die Betriebsversammlung zur Bestimmung des Wahlvorstandes nicht erlaubt.
 
Der DGB habe im Gesetzgebungsverfahren für die Zulässigkeit von Videokonferenzen nach dem Betriebsverfassungsgesetz darauf hingewiesen, dass Ausschüsse und Wahlvorstände darin nicht genannt seien. Der Gesetzgeber habe das gewusst und es dennoch versäumt, Versammlungen zur Bestimmung eines Wahlvorstandes per Videokonferenz zuzulassen.
 

Arbeitgeber pocht auf Einladung zur Betriebsversammlung

Der Arbeitgeber hielt dem entgegen, dass das Arbeitsgericht nur dann einen Wahlvorstand bestellen dürfe, wenn trotz Einladung eine Betriebsversammlung nicht stattgefunden habe. Eine Einladung habe die IG BAU nicht versandt. Vor Beginn der zweiten Corona-Infektionswelle wären auch noch sechs Wochen Zeit gewesen, um eine Betriebsversammlung durchzuführen.
 
Die Antragsteller hätten durchaus auch noch zwei bis drei Monate abwarten können, um den Wahlvorstand regulär in einer Betriebsversammlung zu wählen. Bis dahin seien voraussichtlich hunderttausende von Menschen geimpft.
 

Das Arbeitsgericht bestellt den Wahlvorstand

Das Arbeitsgericht Saarland gab dem Antrag der fünf Arbeitnehmer des Unternehmens statt. Drei von ihnen bestellte das Gericht zum Wahlvorstand, die beiden anderen zu Ersatzmitgliedern.
 
Das Betriebsverfassungsgesetz erfordere für die gerichtliche Bestellung des Wahlvorstandes, dass eine Betriebsversammlung nicht stattgefunden habe, obwohl dazu eingeladen gewesen sei.
 
Damit schütze das Gesetz die Interessen der Gesamtbelegschaft gegenüber den Initiator*innen einer Betriebsratswahl in einem betriebsratslosen Betrieb. Das ergebe ein Blick auf die Rechtslage, wie sie vor der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 1972 bestanden habe.
 

Vor der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes war die Rechtslage anders

Damals konnte das Gericht einen Wahlvorstand bestellen, wenn  - gleich aus welchen Gründen  -
keine Betriebsversammlung stattgefunden hatte oder in einer Betriebsversammlung kein Wahlvorstand gewählt worden war.
 
Dazu habe das Bundesarbeitsgericht klargestellt, dass nicht einmal eine Einladung erfolgt sein musste. Wenn das Betriebsverfassungsgesetz heute eine Einladung fordere, so könne das nur bedeuten, dass damit allen betroffenen Arbeitnehmer*innen wenigstens die Möglichkeit eröffnet werden sollte, ihre eigenen Interessen durch Teilnahme an einer Betriebsversammlung wahrzunehmen, bevor der Wahlvorstand gerichtlich bestellt werde.
 

Die gerichtliche Bestellung eines Wahlvorstandes ist ein Notbehelf

Die gerichtliche Bestellung eines Wahlvorstandes sei ein Notbehelf, auf den nur dann zurückgegriffen werden könne, wenn die Initiator*innen einer Betriebsratswahl allen Arbeitnehmer*innen wenigstens die Chance eingeräumt hätten, einen demokratisch legitimierten Wahlvorstand zu wählen und wenn dies gleichwohl nicht erfolgt sei.
 
Auf eine vorherige Einladung zu einer Betriebsversammlung könne allenfalls dann verzichtet werden, wenn einer solchen Einladung Hindernisse entgegenstünden, deren Beseitigung nicht möglich oder nicht zumutbar sei. So liege der Fall hier.
 

Infektionsschutzrechtliche Bestimmungen stehen der Betriebsversammlung entgegen

Der Arbeitgeber habe ca. 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nach der im Saarland geltenden infektionsrechtlichen Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie dürften Veranstaltungen, die nicht der Unterhaltung dienten, nur dann stattfinden, wenn nicht mehr als zehn Personen zu erwarten seien.
 
Veranstaltungen und Zusammenkünfte mit mehr als zehn Personen erforderten ein dringendes und unabweisbares Bedürfnis zu deren Durchführung. Ein dringendes Bedürfnis bestehe, wenn ein weiteres Zuwarten nicht ratsam scheine, also beispielsweise dann, wenn schwerwiegende rechtliche oder tatsächliche Nachteile drohten. Das gelte insbesondere für Gläubigerausschüsse, Betriebsratsversammlungen oder zwingende Fortbildungsmaßnahmen.
 

Der Veranstalter müsste strenge Hygienemaßnahmen einhalten

Selbst wenn hier an der Durchführung einer Betriebsversammlung ein dringendes Bedürfnis bestehe, sei jedoch zu beachten, dass angesichts einer Teilnehmerzahl von bis zu 400 Personen strenge Hygienemaßnahmen einzuhalten wären. Den Ordnungsbehörden sei ein Hygienekonzept vorzulegen. Etwaige Auflagen müssten die Veranstalter umsetzen.
 
Auch der notwendige Mindestabstand von 1,50 m sei zu beachten. Schließlich hätten sich sowohl die maßgeblichen Inzidenzwerte, als auch die darauf basierenden Kontaktbeschränkungen mehrfach geändert. Auf eine gesicherte Rechtslage könnten die Antragsteller sich deshalb nicht verlassen.
 

Ein weiteres Zuwarten hält das Gericht nicht für zumutbar

Die Antragsteller müssten auch nicht weiter zuwarten. Die Republik befände sich derzeit im zweiten „Lockdown“. Wissenschaftler befürchteten ab April eine dritte Welle der Pandemie. Impfungen gebe es bislang lediglich für einen geringen Teil der Bevölkerung.
 
Lasse man Teilbetriebsversammlungen zu, um dem Infektionsschutz gerecht zu werden, beeinflusse das die Chancengleichheit der Bewerberinnen und Bewerber. Eine Wahlversammlung müsse einheitlich erfolgen. Im Übrigen stünden auch Teilversammlungen den infektionsrechtlichen Verordnungen entgegen.
 

Die gesetzliche Bestimmung zu Videokonferenzen umfasst Wahlversammlungen nicht

Die Vorschrift des Betriebsverfassungsgesetzes, wonach auch Videokonferenzen durchgeführt werden könnten, seien für die Wahl eines Wahlvorstandes nicht einschlägig. Das Gesetz nenne die Betriebsversammlung zur Wahl eines Wahlvorstandes nicht ausdrücklich.
 
Der DGB habe den Gesetzgeber im Vorfeld ausdrücklich darauf hingewiesen. Dennoch habe der Gesetzgeber diese Form der Betriebsversammlung nicht in die Liste der Veranstaltungen aufgenommen, die in Form einer Videokonferenz erfolgen dürfen.
 

Eine Wahlversammlung stellt erhöhte Anforderungen an ein Hygienekonzept

Das Gericht gehe deshalb davon aus, dass die gesetzliche Regelung abschließend sei. Eine Betriebsversammlung zur Wahl eines Wahlvorstandes unterscheide sich auch von den üblichen Betriebsversammlungen. Eine Wahlversammlung stelle erhöhte Anforderungen an ein Hygienekonzept.
 
Den Antragstellern im Verfahren sei es nicht zumutbar, die bestehenden Hindernisse zu beseitigen. Deshalb dürfe das Arbeitsgericht ausnahmsweise trotz fehlender Einladung zur Betriebsversammlung einen Wahlvorstand für die Wahl eines Betriebsrates bestellen.

Hier geht es zum Urteil

Rechtliche Grundlagen

§ 17 III BetrVG, § 129 BetrVG

§ 17 Bestellung des Wahlvorstands in Betrieben ohne Betriebsrat
(1) Besteht in einem Betrieb, der die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 erfüllt, kein Betriebsrat, so bestellt der Gesamtbetriebsrat oder, falls ein solcher nicht besteht, der Konzernbetriebsrat einen Wahlvorstand. § 16 Abs. 1 gilt entsprechend.
(2) Besteht weder ein Gesamtbetriebsrat noch ein Konzernbetriebsrat, so wird in einer Betriebsversammlung von der Mehrheit der anwesenden Arbeitnehmer ein Wahlvorstand gewählt; § 16 Abs. 1 gilt entsprechend. Gleiches gilt, wenn der Gesamtbetriebsrat oder Konzernbetriebsrat die Bestellung des Wahlvorstands nach Absatz 1 unterlässt.
(3) Zu dieser Betriebsversammlung können drei wahlberechtigte Arbeitnehmer des Betriebs oder eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft einladen und Vorschläge für die Zusammensetzung des Wahlvorstands machen.
(4) Findet trotz Einladung keine Betriebsversammlung statt oder wählt die Betriebsversammlung keinen Wahlvorstand, so bestellt ihn das Arbeitsgericht auf Antrag von mindestens drei wahlberechtigten Arbeitnehmern oder einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft. § 16 Abs. 2 gilt entsprechend.

§ 129 Sonderregelungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie
(1) Die Teilnahme an Sitzungen des Betriebsrats, Gesamtbetriebsrats, Konzernbetriebsrats, der Jugend- und Auszubildendenvertretung, der Gesamt-Jugend- und Auszubildendenvertretung und der Konzern-Jugend- und Auszubildendenvertretung sowie die Beschlussfassung können mittels Video- und Telefonkonferenz erfolgen, wenn sichergestellt ist, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können. Eine Aufzeichnung ist unzulässig. § 34 Absatz 1 Satz 3 gilt mit der Maßgabe, dass die Teilnehmer ihre Anwesenheit gegenüber dem Vorsitzenden in Textform bestätigen. Gleiches gilt für die von den in Satz 1 genannten Gremien gebildeten Ausschüsse.
(2) Für die Einigungsstelle und den Wirtschaftsausschuss gilt Absatz 1 Satz 1 und 2 entsprechend.
(3) Versammlungen nach den §§ 42, 53 und 71 können mittels audiovisueller Einrichtungen durchgeführt werden, wenn sichergestellt ist, dass nur teilnahmeberechtigte Personen Kenntnis von dem Inhalt der Versammlung nehmen können. Eine Aufzeichnung ist unzulässig.