Was 1871 als „Deutsches Reich“ das Licht der Welt erblickte, war alles andere als das, was sich das demokratisch gesinnte liberale Bürgertum im deutschsprachigen Raum erträumt hatte. In Anlehnung an das französische Vorbild postulierten deutschsprachige Intellektuelle eine „Deutsche Nation“, die freilich von Anfang an etwas anderes war, als das was die französische Revolutionäre 1789 proklamiert hatten.

In Frankreich ging es um Demokratie und Freiheit, um Gleichheit und Solidarität. Etwa ein halbes Jahr vor dem Sturm auf die Bastille, im Januar 1789, verfasste der Abbé Emmanuel Joseph Sieyès eine Flugschrift mit dem Titel „Was ist der Dritte Stand?“. Die Antwort des Abbé auf diese Frage war: eine ganze Nation. Die französische Nation war die revolutionäre Kraft, die sich aus den Strukturen des französischen Absolutismus befreite.

Der Gedanke, dass es eine deutsche Nation gibt, war den meisten bis Anfang des 19. Jahrhunderts fremd

Demgegenüber war der deutsche Nationalismus immer exklusiv: im 19. Jahrhundert entwickelte sich in Deutschland die typisch deutsche Ausprägung einer Nation, die an seltsame Blut- und Boden-Theorien anknüpfte und alle Menschen ausschloss, die nicht „deutschen Blutes“ waren. Was das sein sollte, war indessen nie klar. 

Der Gedanke, dass es eine deutsche Nation gibt, war bis Anfang des 19. Jahrhunderts fast allen Menschen fremd, die auf dem Gebiet lebten, das wir heute als Deutschland bezeichnen. Nur wenige Intellektuelle, wie etwa der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, träumten von einem Nationalstaat, wie er in England, Frankreich und den jungen USA bereits verwirklicht war. Fichte hatte insgesamt vierzehn „Reden an die deutsche Nation“ verfasst. 


Das Problem war indessen, dass es eigentlich gar nichts gab, was eindeutig „Deutschland“ hieß. Darauf hatten die Schwärmer damals auch keine wirkliche Antwort.


Der bürgerlich-liberale Schriftsteller Ernst Moritz Arndt etwa zählte 1813 in seinem Lied „Was ist des Deutschen Vaterland“ alle damals bekannten Provinzen und Länder auf, die irgendwie mit Deutschland in Verbindung gebracht werden konnten und schloss jede Strophe mit der Feststellung „Deutschland muss größer sein“.

Aus dem Ostfrankenreich wurde im 12. Jahrhundert das „Heilige Römische Reich“

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben rechnete im „Deutschlandlied“ große Teile der Länder Italien, Frankreich, Litauen und Belarus, sowie Österreich, Luxemburg, Belgien, die Niederlande, die Schweiz und Dänemark komplett zu dem, was für ihn Deutschland war (von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt).

Nach der sogenannten „Völkerwanderung“ war in der Nachfolge des Weströmischen Reiches das Reich der Franken entstanden. Im Jahr 843 wurde die Herrschaft über das Reich unter den drei Söhnen Ludwigs des Frommen, König eben dieses „Römischen Reiches“ der Franken, nach dessen Tod aufgeteilt. Nach damaligem Rechtsverständnis kam das aber nicht einer Aufteilung des Reiches gleich. Erst allmählich entwickelten sich Westfrankenreich und Ostfrankenreich zu eigenständigen Einheiten, während der mittlere Reichsteil bereits nach wenigen Jahrzehnten wieder verschwunden war.

Aus dem Ostfrankenreich wurde im 12. Jahrhundert das „Heilige Römische Reich“. Ohne dass es rechtlich eine Bedeutung hatte, setzte sich für die südlich der Alpen gelegenen Reichsgebiete nach und nach die Bezeichnung „Regnum Italicum“ und für die nördlichen Gebiete die Bezeichnung „Regnum Teutonicum“ durch. Erst im 19. Jahrhundert meinten Nationalisten, das mit „Deutsches Reich“ übersetzen zu müssen.

Grundlage des Reiches war eine auf Grundbesitz beruhende Herrschaftsform

Das Reich war aber kein Staat im heutigen Sinne, keine Gebietskörperschaft mit Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt und wurde auch nie dazu. Es blieb vielmehr ein ständisch geprägtes Gebilde mit nur wenigen gemeinsamen Institutionen und insbesondere ohne etwas ähnliches wie eine „staatliche Verwaltung“.  

Grundlage war der Feudalismus, eine auf Grundbesitz beruhende Herrschaftsform. Vasallen (Reichsfürsten) erhielten von den Grundherren (König, Kaiser) ein Lehen, das aus Ländereien und den darauf lebenden Bauern bestand. Im Gegenzug musste der Vasall dem Grundherrn Kriegsdienst leisten. Die Bauern waren wiederum dem Vasallen teilweise zu Abgaben und teilweise zum Frondienst verpflichtet und dabei fest an ihre „Scholle“ gebunden.

Der Begriff „Nation“ hatte ursprünglich auch nichts zu tun mit einem Staat. Er leitete sich aus dem lateinischen „natus“ ab, was soviel heißt wie „geboren“. An den Universitäten des Mittelalters und der frühen Neuzeit wurden Menschen gleicher Herkunft als „Nationes“ bezeichnet. In Anlehnung daran wurde ab dem 16. Jahrhundert der Zusatz „Nationis Germanicæ“ an den Reichsnamen angehängt, später dann als „deutscher Nation“ übersetzt.

Keiner der neuen Territorialstaaten verstand sich als „Deutschland“

Auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches bildeten sich mit der Zeit Territorialstaaten. Dabei handelte es sich um ein seit dem Hochmittelalter sich entwickelnder Strukturtypus politischer Herrschaft. Erstmals bildeten sich Gebietskörperschaften, über die und ihre Bewohner ein Fürst souverän herrschte. Keiner dieser Staaten verstand sich als „Deutschland“, sondern als Bayern, Brandenburg, Württemberg u.s.w.

Der Gedanke an eine deutsche Nation erhielt Auftrieb, als das napoleonische Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts halb Europa und damit auch Länder besetzt hatte, in denen überwiegend Menschen lebten, die sich mit einer Variation der deutschen Sprache unterhielten. Das „Heilige Römische Reich - Nationis Germanicæ“ löste Napoleon kurzerhand auf in der Erkenntnis, dass es ohnehin keine politische Bedeutung mehr hatte. 

Eigentlich hatten die allermeisten Bewohner der von den napoleonischen Truppen besetzten europäischen Länder von der Besatzung profitiert. Die Franzosen schafften die Privilegien des Adels ab und führten mit dem „Code Napoléon“ ein für alle Bürger*innen geltendes Recht ein. Das Reichsgebiet wurde neu geordnet und viele Kleinstaaten, die ohnehin kaum lebensfähig waren, kurzerhand abgeschafft. 

Nach dem Sieg über Napoleon bildeten die Fürsten einen „Deutschen Bund“

Gleichwohl empfanden viele liberale Bürger die französische Besatzung als Fremdherrschaft. Die Interessen deutschsprachiger Intellektueller und der kurzzeitig von Napoleon abgesetzten Fürsten verbanden sich für eine kurze Zeit.  In zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen in von 1813 bis 1815 gelang es den Fürsten der europäischen Territorialstaaten, Napoleon zurückzudrängen. Auf dem Wiener Kongress 1815 drehten dann reaktionäre Kräfte unter der Führung des Rheinländers und in österreichischen Diensten stehenden Fürsten Metternich das Rad der Geschichte wieder zurück. Der Kongress stellte allerdings nicht alle von Napoleon abgeschafften Staaten wieder her. Er legte vielmehr seinerseits zahlreiche Grenzen neu fest und schuf neue Staaten.

Immerhin bildeten die Fürsten einen „Deutschen Bund“, mit dem sie oberflächlich den Forderungen der schwärmerischen Nationalisten nachkamen. In Wirklichkeit handelte es sich aber um einen sehr losen Staatenbund, der nicht einmal annähernd so eng war, wie heute die Europäische Union. Zum Bund gehörten die beiden mächtigen Staaten Österreich und Preußen, aber auch zahlreiche kleinere Staaten nebst vier freien „Reichsstädten“. 

Vorstellungen der Nationalisten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit blieben unterdessen unerfüllt.

Im März 1849 wurde die erste Verfassung eines „Deutschen Reiches“ verabschiedet

In der Märzrevolution von 1848 hat das Bürgertum die Fürsten in den Staaten des Deutschen Bundes zu liberalen Zugeständnissen gezwungen. Am 18. Mai 1848 trat in der Paulskirche in Frankfurt am Main eine Nationalversammlung zusammen, das sogenannte „Paulskirchenparlament“. Im März 1849 verabschiedete es eine Verfassung für ein Deutsches Reich, die „Paulskirchenverfassung“. Deren Ziel war es, den Deutschen Bund und seine Einzelstaaten in Verfassungs- und Rechtsstaaten umzuwandeln. 

Leider wurde auch diese Revolution niedergeschlagen und es begann die Zeit der Restauration und der Reaktion.  Bei den Revolutionären besonders verhasst war der jüngere Bruder des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV, General Wilhelm von Hohenzollern, Prinz von Preußen. Dieser soll bei Barrikadenkämpfen in Berlin den Einsatz von Kartätschen gegen die Revolutionäre veranlasst haben. Dabei handelt es sich um Kartuschen, die mit Stein- oder Metallmunition gefüllt waren. Wurden Kartätschen mit Kanonen verschossen, zerplatzten sie, weshalb sie streuten und eine besonders verheerende Wirkung erzielten. In Berlin tötete der Einsatz 300 Demonstranten.

Es ist heute wohl umstritten, ob Wilhelm wirklich für den Einsatz verantwortlich war. Jedenfalls wurde er dafür verantwortlich gemacht und erhielt den wenig schmeichelhaften Namen „Kartätschenprinz“. Er war so verhasst, dass er während der Revolution gezwungen war, unter dem Pseudonym Wilhelm Oelrichs nach London zu verschwinden.

Der Deutsche Bund löste sich 1866 auf

Nachdem die Revolution verloren war, mussten etliche Anhänger einer liberalen, demokratischen oder sozialistischen Gesinnung fliehen, viele gingen in die USA. Dort begannen zahlreiche Erfolgsgeschichten der in den USA als „forty-eighter“ bekannten europäischen Migrant*innen, etwa die des Carl Schurz, von 1877 bis 1881 Innenminister der Vereinigten Staaten. Oder Mathilde Anneke, eine in den USA bekannte Frauenrechtlerin und Lehrerin für naturwissenschaftliche Fächer. Oder auch Lorenz Brentano, langjähriger Präsident des Stadtrats von Chicago. Viele „forty-eighter“ kämpften auch im Amerikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner gegen die Sklaverei.

Der Deutsche Bund löste sich 1866 in der Folge eines Krieges zwischen Österreich und Preußen auf. Preußen bildete daraufhin mit seinen Vasallenstaaten den Norddeutschen Bund.  Das waren im Grunde alle Staaten des Deutschen Bundes nördlich der Mainlinie. 

Bismarck provozierte mehrere Kriege, um Preußens Macht zu stärken

Der Krieg mit Österreich wurde von Preußen aggressiv mit dem Ziel geführt, die Vorherrschaft im Deutschen Bund zu erlangen. Vorangegangen war ein Krieg, den Österreich und Preußen gemeinsam gegen Dänemark um Schleswig-Holstein geführt hatten. Nach deren Sieg verwaltete Österreich zunächst Holstein und Preußen Schleswig als „vorrübergehendes Kondominium“, also eine zeitweise gemeinsam ausgeübte Herrschaft. 

Preußens wollte jedoch das gesamte Schleswig-Holstein in seinen Staat einverleiben, was letztlich dann den Krieg mit Österreich provozierte.

Die Politik Preußens bestimmte indessen in dieser Zeit nicht der König. Starker Mann war vielmehr ein preußischer Junker, Otto von Bismarck. Diesen hatte der König 1862 zum Ministerpräsidenten und Außenminister ernannt. Herrscher war jetzt nicht mehr Friedrich Wilhelm IV, sondern ein alter Bekannter: dessen jüngerer Bruder Wilhelm, der „Kartätschenprinz“.

Bismarck strebte schon bald nach dem Krieg gegen Österreich einen Krieg mit Frankreich an, das aus seiner Sicht noch als einzige Macht seinem Ziel entgegenstand, den Norddeutschen Bund zu einem Bundesstaat unter Führung Preußens zu entwickeln und zur europäischen Großmacht zu machen. Allerdings sollte Preußen nicht als Aggressor dastehen. Vielmehr musste es so aussehen, als verteidige sich Preußen gegen einen französischen Angriff.

Frankreich wünscht keinen Hohenzollern auf Spaniens Thron

Tatsächlich bekam Bismarck seine Chance. Der spanische Thron war verweist, nachdem Königin Isabella II. 1868 von Aufständischen gestürzt worden war. Diese haben die Krone einem Verwandten des „Kartätschenprinzen“, Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen, angeboten. Napoleon III., Kaiser von Frankreich, befürchtete in dieser Situation eine außenpolitische Umklammerung durch die Hohenzollern. Er stellte klar, dass Frankreich es nicht dulden würde, dass der Prinz von Hohenzollern oder sonst irgendein preußischer Prinz den spanischen Thron besteigt.

Schließlich verzichtete Leopold auf die Kandidatur. König Wilhelm weilte zu dieser Zeit – im Juli 1870 - gerade zur Kur in Bad Ems und hatte vom Verzicht zunächst nichts mitbekommen. Jedenfalls wusste der französische Botschafter De Benedetti eher als der König davon. Er fuhr nach Bad Ems, traf den König auf der Kurpromenade und bat ihn, den Verzicht zu bestätigen und zudem zu erklären, dass er eine weitere Kandidatur eines Hohenzollern unterbinden werde. Den Verzicht bestätigte Wilhelm am nächsten Tag schriftlich. Weitergehend wollte er sich aber nicht binden.

Bismarck fälscht ein Telegramm des Königs

Wilhelm diktierte in Bad Ems einem Legationsrat, Heinrich Abeken, eine Depeche (Telegramm), mit der er der Regierung seine Ablehnung erklärte. Abeken übermittelte Bismarck das Telegramm nach Berlin. Dieser strich einige Passagen zusammen und veränderte den Text so, dass der Anschein erweckt wurde, der König habe die Forderungen Frankreichs als unverschämt angesehen und brüsk abgelehnt. Das so veränderte Telegramm gab Bismarck dann an die Presse.

Durch diese „Emser Depeche“ provozierte Bismarck schließlich die Kriegserklärung Frankreichs. Allerdings gehen nicht alle Historiker davon aus, dass die Depeche zwangsweise zum Krieg mit Frankreich hätte führen müssen. Sie unterstellen Napoleon dem III., dass auch ihm der Krieg entgegenkam und er nur auf einen Anlass zur Kriegserklärung wartete.

Der Norddeutsche Bund befand sich seit Juli 1870, wie von Bismarck gewünscht, mit Frankreich im Krieg, das international als Aggressor dastand. Es war deshalb völlig isoliert und fand keine Unterstützer. Ganz anders als Bismarcks Preußen samt Norddeutschem Bund. Die Süddeutschen Staaten mit Ausnahme Österreichs (Baden, Bayern, Hessen-Darmstadt und Württemberg) traten auf Seiten Preußens dem Krieg bei.

Aus dem Norddeutschen Bund wird das Deutsche Reich

Der Krieg verlief für die Deutschen sehr erfolgreich. Bismarck, der auch Kanzler des Bundes war, arbeitete daher bereits während des Krieges auf eine Einigung hin. Die süddeutschen Staaten ließen sich inzwischen auch überzeugen, sich dem norddeutschen Bund als föderativem staatlichen Gebilde anzuschließen.

Das Parlament des Bundes, der Reichstag, und der Bundesrat, die Vertretung seiner Mitgliedsstaaten, beschlossen im Januar 1871, den Bund in „Deutsches Reich“ umzubenennen und den Bundespräsidenten als „Kaiser“ zu bezeichnen.

Sodann wurde beschlossen, dem amtierenden Präsidenten des Bundes die Kaiserwürde anzutragen. Und das war niemand anderer als unser „Kartätschenprinz“, König Wilhelm von Preußen. Dieser musste freilich zuvor überzeugt werden, das Amt auch anzunehmen. So wirklich anfangen konnte er mit dem Titel „Deutscher Kaiser“ nämlich nichts. „Kaiser“ war aus seiner Sicht ein Titel für einen „Emporkömmling“ wie Napoleon III. Der Titel „König von Preußen“ sei demgegenüber viel ehrenvoller. Er selbst würde allenfalls den Titel „Kaiser von Deutschland“ bevorzugen.

Wie dem auch sei, im Januar trat eine veränderte Fassung der Verfassung des Norddeutschen Bundes in Kraft, samt „Reich“ und „Kaiser“. Am 18. Januar 1871 proklamierten dann die deutschen Fürsten anlässlich des Sieges im Krieg im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Reich. Man stimmte ein Hoch auf „Kaiser Wilhelm“ an und sang bewegt „Nun danket alle Gott“. Wilhelm ist dem Spektakel eher mürrisch gefolgt und soll später gemurt haben, er müsse leider aus Staatsraison „die glänzende preußische Krone“ gegen eine „Schmutzkrone“ vertauschen.

Es entstand ein Deutschland unter der Führung Preußens

Ob dieser Akt wirklich eine „Reichgründung“ war, ist höchst fraglich. Faktisch sind nur vier süddeutsche Staaten dem Norddeutschen Bund beigetreten, der nach wie vor unter Preußens Vorherrschaft stand. Insoweit eine deutliche Parallele zu 1990: auch damals wurde nichts vereinigt oder gebildet, sondern fünf ostdeutsche Länder traten der Bundesrepublik Deutschland bei.

Auch die Verfassung vom 16. April 1871, die als Bismarcksche Reichsverfassung in die Geschichte eingegangen ist, ändert daran nichts. Diese bildete nur vordergründig einen föderalen Staat aus gleichberechtigten Gliedstaaten. Tatsächlich wurde die Verfassung des Norddeutschen Bundes vor allem sprachlich angepasst und einige Regelungen eingebaut, die Preußen mit den süddeutschen Staaten vor ihrem Beitritt verhandelt hatte. 

Diese Verfassung behauptete gar nicht, dass sie vom Volk beschlossen wurde. Vielmehr wird in der Präambel erklärt, dass die Fürsten der Mitgliedsstaaten einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des in ihm geltenden Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes bilden und dass dieser Bund den Namen „Deutsches Reich“ tragen soll. 

Preußen dominierten das Deutsche Reich wie zuvor auch schon den Norddeutschen Bund. Es nahm zweidrittel des Staatsgebietes ein und dreifünftel der Einwohner des Reiches sind preußische Staatsbürger. Zudem beherrschte Preußen auch die Verwaltung des Reiches, weil führende preußische Beamte gleichzeitig die korrespondierenden Ämter des Reiches innehatten. Der preußische Ministerpräsident war zugleich Reichskanzler, der preußische König Deutscher Kaiser in Personalunion. Von 58 Stimmen im Bundesrat, der Vertretung der 26 Gliedstaaten, hatte Preußen allein 17. Das sind genauso viele, wie 17 kleinsten Staaten zusammen hatten.

Leider setzte sich in Deutschland eine von patriotischen Schwärmern begonnene Deutschtümelei durch

Das Reich hatte wenig mit einem Nationalstaat zu tun, wie er in Großbritannien, Frankreich oder den USA entstanden ist. Schon die patriotischen Schwärmer wie Fichte, Arndt oder Hoffmann von Fallersleben verfolgten eine typisch deutsche Variante, die Menschen ausschließen sollte, die nach ihrer Auffassung keine Deutschen waren, selbst wenn sie und ihre Vorfahren seit Jahrhunderten zwischen Maas und Memel, Etsch und Belt lebten.  

Was jetzt passierte war aber die „Verpreussung“ aller deutschen Länder. Es entstand der typische wilhelminische Obrigkeitsstaat, in dem das Militär den Ton angab. Von Demokratie keine Spur. Die deutsche Nation war alles andere als eine revolutionäre Kraft gegen die Herrschaft von Adel und Klerus. Im Gegenteil: Der herrschende Adel hatte die Nation gleichsam okkupiert und gemeinsam mit dem Großbürgertum seine Herrschaft konsolidiert. Neben den „blaublütigen“ Baronen gab es jetzt die „Schlotbarone“, Bürgerliche, die über die Produktionsmittel verfügten und zu neuen Herren aufstiegen.

Ideologisch setzte sich die von den patriotischen Schwärmern begonnene Deutschtümelei durch. Auf einmal sollte es eine seit Jahrtausenden bestehende deutsche Nation geben, die auf „die Germanen“ zurückgeht. 

Sozialdemokaten und Gewerkschafter waren für Bismarck „vaterlandslose Gesellen“

Es bildete sich eine Geisteshaltung heraus, die die Bedeutung des „deutschen Volkes“ stark überhöhte. Diese „völkische Bewegung“ war eine deutschnationale und antisemitisch-rassistische Bewegung, die in vielen einflussreichen Vereinen und Zusammenschlüssen organisiert war. Die weitaus stärkste war der „Alldeutsche Verband“. Die Traditionslinie dieser Verbände führt direkt in die nationalsozialistische Diktatur, zu Völkermord und Vernichtungskriegen.

Schon bald nach der sogenannten „Reichsgründung“ wurde klar, was die Herrschenden vom größten Teil des Volkes hielten, dessen Wohlfahrt sie angeblich pflegen wollten. Bismarck bezeichnete Arbeitnehmer, die sich in Gewerkschaften zusammenschlossen als „Reichsfeinde“ und „vaterlandslose Gesellen“, die man an besten hinter Schloss und Riegel brachte. Zwei wichtige Anführer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP), August Bebel und Wilhelm Liebknecht, verurteilten Gerichte 1872 zu je zwei Jahren Festungshaft. Die Schikanen gegen freiheitlich denkende Menschen insbesondere aus der Arbeiterklasse nahmen stetig zu.

1876 nahm Bismarck dann zwei erfolglose Attentate auf den „Kartätschenprinzen“ zum Anlass, vom Reichstag die Sozialistengesetze beschließen zu lassen. Die SAP und die ihr nahestehenden Gewerkschaften wurden verboten. Verstöße gegen die Sozialistengesetze bestrafte der Staat mit Gefängnis oder erheblichen Geldstrafen. 

Die deutsche Nation besteht ausschließlich aus Menschen mit Migrationshintergrund

Aus Erkenntnissen der Sprachwissenschaft konstruierte man eine „germanische Rasse“ die von einer „arischen Urrasse“ abstammen soll. Dabei war bereits damals klar, dass das blanker Unsinn ist. Der Genpool des Menschen bestimmt überhaupt keine Rassen. Es hat auch niemals ein „germanisches Volk“ gegeben. Der Name geht auf den römischen Geschichtsschreiber Tacitus zurück. Für die Römer waren Germanen alle Stämme östlich des Rheins, die sich in einer für die Römer seltsamen Sprache unterhielten. 

Angehörige dieser Stämme wären vermutlich verblüfft gewesen, hätte man ihnen erklärt, dass sie einem gemeinsamen Volk angehören sollten. Ein römischer Offizier mit cheruskischem Migrationshintergrund und dem Namen Arminius würde sich wahrscheinlich die Augen reiben, erführe er, dass die Deutschen des 19. Jahrhunderts ihn zu einem der ihren erklärten, ihn kurzerhand in Herrmann umtauften und für ihn ein völlig überdimensioniertes Denkmal bei Detmold errichteten.

Eine deutsche Nation gibt es seit der Einigung Anfang 1871 und die Bismarck’sche Reichsverfassung ist das erste für eine Gebietskörperschaft, die sich Deutschland nennt, entworfene Grundgesetz. Die deutsche Nation ist nämlich genau wie französische oder die englische Nation ein politisches und juristisches Gebilde. Sie besteht aus den Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und nicht aus Menschen, die von „Germanen“ abstammen. 

Ob jemand einen sogenannten „Migrationshintergrund“ hat, ist dabei völlig unerheblich. Andernfalls gebe es eine „deutsche Nation“ auch gar nicht. Laut Wikipedia beschreibt das soziale Merkmal „Migrationshintergrund“ Personen, die selbst oder deren Vorfahren aus einem anderen Land eingewandert sind, sowie soziale Gruppen oder Gemeinschaften, die aus eingewanderten Personen oder deren Nachkommen bestehen.

Mitteleuropa war stets eine Region, in die viele Menschen migriert sind. Es ist kaum wahrscheinlich, dass unter den Vorfahren eines jeden Deutschen oder einer jeden Deutschen nicht jede Menge Migranten sind. Insoweit kann jeder Deutsche von sich behaupten, einen Migrationshintergrund zu haben.

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