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Gemeinwohl und Einzelfallgerechtigkeit

Gemeinwohl und Einzelfallgerechtigkeit
Gemeinwohl und Einzelfallgerechtigkeit

Im Bundessozialgericht in Kassel fand am 04. April 2019 eine gemeinsame Veranstaltung des Deutschen Sozialgerichtstages (DSGT) und des Deutschen Sozialrechtsverbandes (DSRV) statt. Vorträge und Diskussionen beschäftigten sich mit dem Spannungsfeld zwischen Gemeinwohl und Einzelfallgerechtigkeit.

Der DSGT ist ein interdisziplinärer Verein, in dem Sozialrichter*innen und Jurist*innen aus Verbänden und Behörden gemeinsam mit anderen sozialrechtlichen Praktiker*innen wie ärztlichen Sachverständigen und Wissenschaftlern an sozialrechtlichen Themen arbeiten. Der DSGT wird als Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren gehört. Auch das Bundesverfassungsgericht hört den Verband in Verfahren an, die das Sozialrecht betreffen. Schwerpunkt der Arbeit des DSRV ist die Pflege des Sozialrechts in Wissenschaft und Praxis.
 
Die Tagung in Kassel hatten DSGT und DSGV erstmals gemeinsam organisiert. Sie soll ein Grundstein für die kooperative Verbindung der beiden Verbände mit dem Ziel sein, auch zukünftig in geeigneter Form zusammenzuarbeiten. Die erste gemeinsame Veranstaltung hatte als Thema „Einzelfallgerechtigkeit versus Gemeinwohlinteresse?“ und war durchaus gelungen. Namhafte Referentinnen und Referenten haben sich in Vorträgen aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem Thema auseinandergesetzt. In einer abschließenden Podiumsdiskussion besprachen die Teilnehmer*innen das Thema  aus der Sicht ihrer Rollen und Funktionen in Politik, Gesetzgebung, Rechtsprechung, Rechtsvertretung, Wissenschaft und Sozialverwaltung.
 

Professor Kirchhoff: Der Gesetzgeber ist für das Allgemeinwohl, die Gerichte sind für die Einzelfallgerechtigkeit zuständig

Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des BVerfG, vertrat die Position, dass der Gesetzgeber in erster Linie dem Gemeinwohl verpflichtet sei. Die Gerichte seien dann für die Einzelfallgerechtigkeit zuständig. Zu diesem Zweck stünden ihnen ausreichende Instrumente zur Verfügung, Gesetze auszulegen. Er würdigte die richterliche Rechtsfortbildung und lobte insoweit insbesondere das Bundessozialgericht (BSG), das Gesetzeslücken zugunsten von Bürgern mit Anspruchsgrundlagen wie dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch (siehe hierzu Anmerkung 2) geschlossen habe.

Professorin Felix: der Gesetzgeber macht das Recht, nicht die Gerichte

Prof. Dr. Dagmar Felix, Universität Hamburg, zeigte indessen Beispiele auf, in denen die Rechtsprechung und namentlich das BSG aus ihrer Sicht gleichsam über das Ziel hinausgeschossen ist. Sie wandte ein, das nicht die Gerichte, sondern die Parlament als Gesetzgeber die Rechtsgrundlagen schaffe. Auslegen dürften Gerichte nur dann, wenn nach dem Wortlaut einer Rechtsvorschrift eine Regelungslücke vorhanden sei. Keineswegs dürfte ein Gericht gegen den Wortlaut eines Gesetzes urteilen, weil es einen Einzelfall aus seiner Sicht gerecht regeln wolle.
 
Gesetzesauslegungen dienten dazu, herauszufinden, was der Gesetzgeber tatsächlich regeln wollte. Dessen Wille und nicht die Auffassung des Gerichts von Gerechtigkeit sei maßgeblich. Frau Dr. Felix zeigte beispielhaft Entscheidungen des BSG zum Krankenversicherungsrecht auf. Der Gesetzgeber habe die Verordnung von neuen Medikamenten und Hilfsmitteln zugunsten der Versicherten erleichtern wollen und die gesetzlichen Vorschriften insoweit geändert. Das BSG hatte die Kostenübernahme in Einzelfällen gleichwohl aus sozialpolitischen Gründen abgelehnt. So sei es zu einer Art Disput zwischen BSG und Gesetzgeber gekommen, indem der Gesetzgeber den Wortlaut der Vorschrift immer mehr konkretisiert habe. Dabei hätte das BSG von Anfang an anhand der Gesetzesbegründung den Willen des Gesetzgebers ermitteln können.

Anmerkung en des Autors:

1. Was ist eine gerechte Gesellschaft?
 
Dem Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts darf in Zusammenhang mit seinen Auffassungen zu Gemeinwohl und Einzelinteressen widersprochen werden. Frau Dr. Felix hat Recht, wenn sie darauf hinweist, dass Gerichte ihre Auffassung von Gerechtigkeit nicht gegen den Willen des Gesetzgebers durchsetzen sollten. Eines der Prinzipien des Rechtsstaates ist die Gewaltenteilung. Gesetze werden ausschließlich vom Gesetzgeber beschlossen. Und das ist ein einer Demokratie ein in gleichen und geheimen Wahlen gewähltes Parlament. Gerichte sind Anwender dieses Rechts. Sie sind Dienstleister und „Knechte des Rechts“, wie  Frau Professor Dr. Felix es ausdrückte. Rechtsfortbildung dürfen Gerichte nur betreiben, wenn es nach dem Wortlaut der anzuwendenden Vorschriften Lücken gibt, die die Rechtsprechung aber nur zur Durchsetzung des offensichtlichen gesetzgeberischen Willens schließen kann.

Gerichte sind Dienstleister und keine Rechtsgestalter

Gerichte dürfen sich nur dann weigern, den Willen des Gesetzgebers durchzusetzen, wenn dieser gegen höherrangiges Recht verstößt, also etwa gegen das Grundgesetz, einer Landesverfassung oder gegen europäischem Recht. Dann müssen sie aber um eine Entscheidung der insoweit zuständigen Gerichte, etwa des Bundesverfassungsgerichts, der Verfassungsgerichte der Länder  oder des Europäischen Gerichtshofes nachsuchen
 
Andererseits ist der Gesetzgeber nicht nur dem Allgemeinwohl verpflichtet. Gleich Artikel 1 des Grundgesetzes gibt vor, was in der Bundesrepublik gleichsam Staatsraison ist: die gesamte Staatsgewalt ist verpflichtet, für eine Rechtsordnung zu sorgen, die die Würde des Menschen achtet und schützt. Sehr früh schon hat das BVerfG bereits in den 50er Jahren in der sogenannten „Lüth-Entscheidung“ erklärt, dass die in der Verfassung garantierten Grundrechte nicht lediglich Abwehrrechte sind. Die Grundrechte bilden vielmehr eine freiheitlich demokratische Grundordnung, an der sich das gesamte staatliche Handeln, also auch die Gesetzgeber orientieren muss.
 

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, das Recht eines jeden einzelnen Menschen auf ein Leben in Würde zu achten

Der Gesetzgeber ist also sogar in erster Linie für das Wohl des einzelnen Menschen in unserer Gesellschaft verantwortlich. Gesetze dürfen nicht irgendein ohnehin nur abstrakt zu fassendes Gemeinwohl zum Ziel haben. Das Gemeinwohl ist nur insoweit interessant, als es letztlich dem Interesse des einzelnen Menschen dient, indem für Interessensausgleich gesorgt und eine Ordnung etabliert wird, die die ökologischen und ökonomischen Grundlagen des Wohlstandes sichert.
 
Philosophen streiten schon seit langem darüber, was eine gerechte Gesellschaft ist. Ist sie gerecht, wenn es dem meisten ihrer Mitglieder gut geht? Muss man in Kauf nehmen, dass es in Einzelfällen Ungerechtigkeiten gibt?  Ist eine Gesellschaft gerecht, die ungerecht gegen Menschen ist, die außerhalb der Gesellschaft stehen? Nimmt man unser Grundgesetz ernst, ist Ungerechtigkeit auch nicht in Einzelfällen hinnehmbar. Der Gesetzgeber ist vielmehr verpflichtet, das Recht eines jeden einzelnen Menschen auf ein Leben in Würde zu achten und zu schützen. Das betrifft nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern auch Migrant*innen. Und es betrifft auch Menschen, die nicht bei uns Leben, mittelbar aber durch unsere Gesetze betroffen sind.
 
Doch ist es überhaupt möglich für den Gesetzgeber die Interessen und das Wohl eines jeden einzelnen zu bedenken? Es dürfte freilich kaum möglich sein, dass Parlamentarier bei der Beratung eines Gesetzesvorhabens jede mögliche Fallkonstellation bedenken und dabei das Wohl und die Würde eines jeden Einzelnen unter Millionen von Betroffenen im Auge  haben.
 
Doch wie bereits Immanuel Kant für den Bereich der Ethik sagte, ist das Ergebnis des Handelns nicht das Entscheidende, sondern die Maxime des Willens, der unser Handeln bestimmt. Vielleicht könnte man den kategorischen Imperativ für die Gesetzgebung in dieser Weise anwenden: beschließe nur Gesetze, bei denen Du davon ausgehen kannst, dass sie keinen Menschen in einer Weise betreffen, die seine Würde antastet.
 

Der Staat kann sogar zu Enteignungen verpflichtet sein, wenn dadurch die Menschenwürde geschützt wird.

Das setzt dem staatlichen Handeln deutliche Grenzen. Ungerecht ist die Ablehnung eines Asylantrages, wenn dadurch das Leben eines Menschen in Würde verhindert wird. Ungerecht ist es, wenn wir unsere Grenzen für Migrant*innen schließen, die deshalb unter menschenunwürdigen Bedingungen in Sammellagern leben müssen.
 
Der Grundsatz verpflichtet den Staat aber auch zu Handlungen. In Berlin wird derzeit etwa diskutiert, ob Wohnungsbaugesellschaften verstaatlicht werden können, wenn sie die Lage auf dem Wohnungsmarkt für Profitzwecke ausnutzen. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen gibt es. Zwar garantiert Artikel 14 Grundgesetz das Eigentum. Aber bereits dieser Artikel bestimmt, dass dessen Gebrauch zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll und dass insoweit auch Enteignungen zulässig sind. Artikel 15 Grundgesetz schließlich bestimmt, dass u.a. Grund und Boden zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden können.
 
Zeitgerechtes Wohnen ist ein Teil der Menschenwürde. Wer einem Menschen diese Möglichkeit nimmt, tastet seine Würde an. Juristische Personen wie GmbHs oder Aktiengesellschaften haben indessen keine Würde, die haben ausschließlich Menschen. Für die Frage, ob eine Enteignung gerecht ist, stehen sich hier also keine gleichberechtigten Interessen gegenüber. Der Gesetzgeber ist durch unsere Verfassung verpflichtet, die Würde eines jeden Menschen zu schützen. Das zwingt ihn dazu, alles Erdenkliche zur Erfüllung dieses Zwecks unternehmen. Dazu gehören im Zweifel auch Enteignungen, wenn auch als letztes Mittel.
 

Was ist der sozialrechtliche Herstellungsanspruch?

Hier geht es um eine Fallkonstellation, in der eine Behörde ihre Auskunfts- und Beratungspflicht verletzt hat und dadurch ein Antragsteller einen konkreten Nachteil erlitten hat. Das kann er etwa haben, wenn er einen Antrag auf eine Sozialleistung aufgrund eines Beratungsfehlers zu spät oder gar nicht gestellt hat.
 
Hat der Antragsteller dadurch einen konkreten Nachteil erlitten, kommt ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch in Betracht. Voraussetzung ist aber, dass der Nachteil durch eine rechtmäßige Amtshandlung wieder ausgeglichen werden kann.