Arbeitgeber dürfen schwerbehinderte Menschen auch in Bewerbungsverfahren nicht benachteiligen. © Adobe - Stock - Racle Fotodesign
Arbeitgeber dürfen schwerbehinderte Menschen auch in Bewerbungsverfahren nicht benachteiligen. © Adobe - Stock - Racle Fotodesign

In Deutschland verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), Menschen in Arbeits- und Berufsausbildungsverhältnissen und bei deren Begründung etwa wegen einer Behinderung zu diskriminieren. Mit dem Gesetz hat die Bundesrepublik gleich mehrere Europäische Antidiskriminierungsrichtlinien teilweise umgesetzt, die seinerzeit, als sie verabschiedet wurden, neoliberale Politiker beinahe zur Weißglut getrieben hatten. Sahen sie doch einen böswilligen Angriff auf die ach so geliebte Privatautonomie.


Das AGG schreibt u.a. vor, dass Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen, unwirksam sind (§ 7 AGG). Verstößt ein Arbeitgeber gegen das Benachteiligungsverbot, ist er verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen (§ 15 AGG). Insoweit müsste die/der betroffene Arbeitnehmer*in aber im Zweifel nachweisen, welcher Schaden kausal durch die Verletzung entstanden ist.

Sind Benachteiligung der einen Partei im Sinne des AGG zu vermuten, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß vorliegt

Handelt es sich indessen nicht um einen Vermögensschaden, kann die/der Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der Arbeitgeber ein/e Stellenbewerber*in nicht eingestellt hat und wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
In diesem Zusammenhang gibt es im AGG eine Beweislastregel, die den betroffenen benachteiligten Menschen ihre Lage etwas erleichtert: wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung im Sinne des AGG vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (§ 22 AGG).


Das Verwaltungsgericht Mainz hatte kürzlich einen Fall zu entscheiden, in dem es um den Anspruch auf Entschädigung einer schwerbehinderten Stellenbewerberin ging, deren Bewerbung auf einen ausgeschriebenen Dienstposten das Land abgelehnt hatte.

Es geht um einen Dienstposten im mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienst

Geklagt hatte eine Frau, die über die Fachhochschulreife im Fachbereich Wirtschaft und Verwaltung sowie über eine dreijährige Ausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie verfügt. Das Land hatte mehrere Stellen für Bürosachbearbeiter/Bürosachbearbeiterinnen ausgeschrieben. Gemäß der Stellenbeschreibung bot es die Einstellung in ein Beamtenverhältnis des mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienstes an.


Voraussetzung für den Dienstposten war die Laufbahnbefähigung für den mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienst oder alternativ der Abschluss einer „für die Laufbahn förderlichen Berufsausbildung“ als

 

  • Verwaltungsfachangestellte/-r (Kommune und Land)
  • Rechtsanwalts- und/oder Notarfachangestellte/-r
  • Steuerfachangestellte/-r
  • Justizfachangestellte/-r
  • Fachangestellte/-r für Arbeitsmarktdienstleistungen (bis 2012: Fachanstellte/-r für Arbeitsförderung)
  • Sozialversicherungsfachangestellte/-r
  • Kauffrau/Kaufmann (alle Fachrichtungen, mindestens dreijährige Ausbildung).

Zusätzlich verlangte das Land „den Nachweis einer in Art und Wertigkeit des mittleren nichttechnischen Dienstes vergleichbaren hauptberuflichen Tätigkeit von mindestens einem Jahr und sechs Monaten Dauer“.

Öffentliche Arbeitgeber müssen schwerbehinderte Bewerber grundsätzlich zum Vorstellungsgespräch einladen

Mit Schreiben vom 18. März 2020 teilte das Land der Bewerberin mit, dass ihre Bewerbung im laufenden Auswahlverfahren nicht weiter berücksichtigt werden könne, da sie die erforderliche berufliche Qualifikation nicht nachweisen könne. Die Bewerbung werde daher abgeschlossen. Zu einem Vorstellungsgespräch hatte man die Bewerberin nicht eingeladen.


Insoweit gibt es aber eine besondere Regelung, wenn es um eine Einstellung in den öffentlichen Dienst geht und die sich aus dem 9. Sozialgesetzbuch (SGB IX) ergibt. § 165 Satz 3 SGB IX schreibt vor, dass schwerbehinderte Menschen zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden, wenn sie sich um einen Arbeitsplatz beworben haben, wenn ein öffentlicher Arbeitgeber eine Arbeitsstelle neu besetzt. Das ist nach Satz 4 dieser Vorschrift nur entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.

Schwerbehinderte Bewerber sind benachteiligt, wenn sie nicht zum Vorstellungsgespräch geladen werden, obwohl die Eignung nicht offensichtlich fehlt

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hatte bereits in einer Entscheidung von 2011 geurteilt, dass es sich um eine Benachteiligung handelt, wenn der öffentliche Arbeitgeber schwerbehinderten Menschen eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch vorenthält, obwohl ihnen die fachliche Eignung nicht offensichtlich fehlt (BVerwG, Urteil vom 3. März 2011 - 5 C 16.10 - damals noch zum seinerzeit geltenden § 82 Satz 3 SGB IX a.F.).


Das Land war indessen der Auffassung, dass es die Bewerberin nicht zu einem Vorstellungsgespräch einladen musste. Eine förderliche Berufsausbildung im Sinne der Ausschreibung liege bei dem Ausbildungsberuf der Fachfrau für Systemgastronomie nicht vor. Es handele sich dabei auch nicht um einen kaufmännischen Beruf, meint das Land.


Das Verwaltungsgericht gab allerdings der Klägerin Recht. Zunächst stellte das Gericht fest, dass die Beteiligten dem persönlichen Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes unterfallen. Als Bewerberin für ein öffentlich-rechtliches Beschäftigungsverhältnis im Verwaltungsdienst der Beklagten gelte die Klägerin als Beschäftigte im Sinne AGG (§ 6 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 24 Nr. 1 AGG). Die Beklagte als möglicher (künftiger) Dienstherr sei Arbeitgeber im Sinne des Gesetzes (§ 6 Abs. 2 AGG).

Es muss unzweifelhaft sein, dass der Bewerber nicht dem Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle entspricht

Der Beklagte könne sich insbesondere nicht darauf berufen, dass die Einladung zum Vorstellungsgespräch entbehrlich gewesen sei, weil die fachliche Eignung offensichtlich fehle. Mit dem Begriff „offensichtlich fehlt" habe der Gesetzgeber hohe Anforderungen aufgestellt.


Das Fehlen der fachlichen Eignung muss nach Auffassung des VG Mainz aufgrund der eingereichten Bewerbungsunterlagen evident sein. Es müsse unzweifelhaft sein, dass der Bewerber nicht dem Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle entspräche. Das setze voraus, das Anforderungsprofil und das Leistungsprofil des Bewerbers miteinander zu vergleichen.


Der Beklagte gehe davon aus, dass die fachliche Eignung der Klägerin deshalb offensichtlich fehle, weil ihre Ausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie keine für die Laufbahn förderliche Berufsausbildung darstelle. Die Berufsausbildung zur Fachfrau für Systemgastronomie sei keine Berufsausbildung als Kauffrau/Kaufmann.

Die Industrie- und Handelskammer bewertet die Ausbildung „Fachfrau für Systemgastronomie" als kaufmännische Ausbildung

Es träfe zwar zu, dass die Berufsbezeichnung der Klägerin nicht auf Kauffrau laute, erklärt das Gericht. Es käme jedoch nicht auf einen formalen Aspekt an. Maßgeblich sei vielmehr, ob die Ausbildung der Klägerin als kaufmännische Ausbildung angesehen werden könne.


Die Industrie- und Handelskammer bewerte die Ausbildung „Fachfrau für Systemgastronomie" als kaufmännische Ausbildung. Schon allein vor diesem Hintergrund könne der Klägerin die fachliche Eignung nicht offensichtlich abgesprochen werden, auch wenn im BERUFENET der Bundesagentur für Arbeit bei einer Recherche mit dem Schlagwort „Kaufmann" der Fachmann für Systemgastronomie nicht genannt werde. Hinzu käme, dass in einem anderen Ausbildungsportal (AUBl-plus.de) unter „Kaufmännische Berufe in Hotel und Gastronomie" als weiterer Ausbildungsberuf in diesem Bereich der Fachmann für Systemgastronomie genannt werde.

Eine pflichtwidrig unterlassene Einladung zu einem Vorstellungsgespräch hat eine lndizwirkung im Sinne des § 22 AGG

Der Klägerin stehe im vorliegenden Fall § 22 AGG zur Seite. In dem Fall einer pflichtwidrig unterlassenen Einladung zum Vorstellungsgespräch sei auch der für den Entschädigungsanspruch erforderliche Kausalzusammenhang zwischen der Schwerbehinderung der Klägerin und ihrer Benachteiligung im Bewerbungsverfahren anzunehmen, so das Gericht. Eine pflichtwidrig unterlassene Einladung zu einem Vorstellungsgespräch habe nämlich eine lndizwirkung im Sinne des § 22 AGG.


Der Beklagte habe die Kausalitätsvermutung nicht widerlegt. Insoweit trage nämlich der Arbeitgeber die volle Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen habe. Dabei könnten für den nach § 22 AGG möglichen Nachweis, dass andere Gründe als die Behinderung erheblich gewesen seien, nur solche Gründe herangezogen werden, die nicht die fachliche Eignung beträfen.

Die Vermutung der Benachteiligung der Klägerin ist nicht widerlegt

Dass die danach indizierte Benachteiligung der Klägerin auf Umständen beruhe, die weder einen Bezug zu ihrer Schwerbehinderung aufwiesen noch ihre fachliche Eignung berührten, habe der Beklagte nicht dargetan. Soweit er vortrage, dass er nicht nur die Bewerbung der Klägerin, sondern auch entsprechende Bewerbungen von Systemgastronomie-/Restaurant-/ und Hotelfachleuten ohne Einladung zum Vorstellungsgespräch abgelehnt habe, sei dies nicht geeignet, die lndizwirkung im Hinblick auf die Kausalität zu entkräften. Denn auch dieses Argument berührt letztlich wiederum die Frage der fachlichen Eignung, die aber in § 165 Satz 4 SGB IX abschließend geregelt sei. Die Vermutung der Benachteiligung der Klägerin sei damit nicht widerlegt.


Hier geht es zum Urteil des Verwaltungsgerichts Mainz: (PDF)