Das Bundessozialgericht (BSG) ist das höchste Sozialgericht in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn es eine strittige Rechtsfrage klärt, beeinflusst das die Rechtsprechung maßgeblich. Die Instanzgerichte sind zwar unabhängig und das BSG ist für sie keine vorgesetzte Dienststelle. Insoweit können sie auch abweichende Rechtsauffassungen vertreten. In der Praxis kommt das aber eher selten vor, weil der fragliche Rechtsstreit ja wieder vor dem BSG landen könnte. Wenn keine guten Argumente für eine abweichende Rechtsmeinung vorliegen, hätte das Instanzgericht also nur dafür gesorgt, dass sich ein Verfahren in die Länge zieht.
Nicht jedes Verfahren kann vor das Bundessozialgericht gebracht werden
Das BSG kann aber nicht von jedem angerufen werden. Ein Kläger muss sich durch einen zugelassenen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen (§ 73 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Schon die Beschwerdeschrift muss von einem zugelassenen Prozessbevollmächtigten unterzeichnet sein. Zugelassen sind dabei vor allem die Jurist*innen der DGB Rechtsschutz GmbH, die in der Regel auch insoweit auch über viel mehr Fachwissen verfügen als etwa Rechtsanwälte ohne Fortbildung zum Fachanwalt.
Es kann aber auch nicht jedes Verfahren vor das BSG gebracht werden. Das höchste deutsche Sozialgericht ist nämlich ein Revisionsgericht. Es darf den Sachverhalt, über den ein Urteil gefällt wird, nicht aufklären. Ein Revisionsgericht entscheidet vielmehr „nur“ über Rechtsfragen.
Gegen das Urteil oder einen Beschluss eines Landessozialgerichts (LSG) steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht allerdings nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts zugelassen worden ist. Das LSG darf die Revision indessen nur zuzulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
- das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
- ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann.
Erhebt ein Beteiligter Beschwerde dagegen, dass ein LSG die Revision nicht zugelassen hat, muss er konkret Gründe für die Zulassung darlegen
Hat das LSG die Revision nicht zugelassen, kann ein durch dessen Urteil beschwerter Beteiligter eine Nichtzulassungsbeschwerde erheben. Er muss dann darlegen, dass einer der drei Gründe für die Zulassung vorliegen.
Einen Verfahrensmangel kann ein Beteiligter allerdings nicht deshalb geltend machen, weil das LSG einen Antrag nach § 109 SGG nicht gefolgt ist. Dabei handelt es sich um einen Antrag des Klägers, einen bestimmten Arzt gutachtlich zu hören. Will ein*e Kläger*in geltend machen, dass das LSG den Sachverhalt nicht hinreichend erforscht hat, liegt ein Grund für die Zulassung der Revision nur vor, wenn das Gericht einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Nicht einfach ist es auch, das BSG davon zu überzeugen, dass Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
Das hat sie nämlich nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Und das entweder aus Gründen der Rechtseinheit oder wegen der Fortbildung des Rechts.
Der Beschwerdeführer muss darlegen, dass eine Rechtsfrage erklärungsbedürftig und erklärungsfähig ist und darüber hinaus nicht nur Bedeutung für den Einzelfall hat
Der Beschwerdeführer muss anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben
- welche Fragen sich stellen,
- dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der, Fortbildung des Rechts erforderlich ist, und
- dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt.
Ein Beschwerdeführer muss daher, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog. Breitenwirkung) darlegen.
Das BSG hatte kürzlich wieder einmal darüber zu entscheiden, ob eine solche Grundsatzrüge den Anforderungen genügt.
H2: Nachdem die Zeit der Heilungsbewährung abgelaufen ist, wird der Grad der Behinderung wieder festgestellt, indem die konkreten „Funktionsstörungen“ zugrunde gelegt werden
Ein Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des ihm zuerkannten Grades der Behinderung (GdB) von 100 nach Ablauf der Heilungsbewährung auf 40. Bei ihm war vor Jahren ein Kieferhöhlen-Carcinom diagnostiziert worden. Die Anlage zur Versorgungsmedizinverordnung schreibt vor, dass während einer Zeit der „Heilungsbewährung“ ein Grad der Behinderung festzustellen ist, der sich nicht an der Einschränkung der Teilhabe aufgrund konkreter „Funktionsstörungen“ ergibt. Während dieser Zeit ist vielmehr davon auszugehen, dass der GdB wegen der Rezidivgefahr höher ist.
Nach Ablauf der Heilungsbewährung wird dann wieder der GdB anhand konkreter Funktionsstörungen festgestellt. Im Fall des Klägers war das Versorgungsamt danach zu dem Ergebnis gelangt, dass bei ihm nur noch ein GdB von 40 vorliegt, er also nicht mehr zum Kreis der schwerbehinderten Menschen gehört.
Sozialgericht und LSG hatten dem Versorgungsamt Recht gegeben. Das LSG hatte die Revision nicht zugelassen. Hiergegen hatte der Kläger mit der Begründung Beschwerde eingelegt und diese damit begründet, dass sein Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung habe.
Werden materielle Anspruchsvoraussetzungen eines sozialrechtlichen Leistungsgesetzes geändert, gilt grundsätzlich das so genannte Versicherungs- oder Leistungsfallprinzip
Der Kläger meinte, bislang sei höchstrichterlich nicht geklärt, nach welchem Recht der Sachverhalt zu beurteilen sei. Er hat dazu drei Fragen formuliert, mit denen er im Wesentlichen geklärt haben will, ob die Feststellung des GdB nach dem Grundsatz erfolgt, dass sich die Entstehung und der Fortbestand des sozialrechtlichen Anspruchs auf Leistungen nach dem Recht beurteilen ist, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat.
Das BSG hat sich indessen bereits in früheren Entscheidungen mit den „Grundsätzen des intertemporalen Rechts befasst:
Werden materielle Anspruchsvoraussetzungen eines sozialrechtlichen Leistungsgesetzes geändert, gilt grundsätzlich das so genannte Versicherungs- oder Leistungsfallprinzip. Hiernach ist ein Rechtssatz nur auf solche Sachverhalte anwendbar, die nach seinem Inkrafttreten verwirklicht werden. Spätere Änderungen eines Rechtssatzes sind danach für die Beurteilung von vor seinem Inkrafttreten entstandenen Lebensverhältnissen unerheblich.
Etwas anderes gilt nur für den Fall, dass das Gesetz seine zeitliche Geltung auf solche Verhältnisse erstreckt. Dementsprechend geht das BSG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass sich die Entstehung und der Fortbestand sozialrechtlicher Ansprüche oder Rechtsverhältnisse grundsätzlich nach dem Recht beurteilen, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat.
Der Kläger hatte sich nicht der Mühe unterzogen, sich mit der Rechtsprechung des BSG zum intertemporalen Recht inhaltlich auseinanderzusetzen
Der Kläger hatte im aktuellen Fall nicht hinreichend dargetan, dass die von ihm aufgeworfenen Fragestellungen klärungsbedürftig seien.
Er weise selbst auf ein Urteil des BSG vom September 2013 und die dortigen Ausführungen zu den Grundsätzen des intertemporalen Rechts hin. Danach seien die Entstehung und der Fortbestand sozialrechtlicher Ansprüche oder Rechtsverhältnisse grundsätzlich - soweit Übergangsregelungen fehlten - nach dem Recht zu beurteilen, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat habe. Der Kläger weise zwar zutreffend darauf hin, dass diese Entscheidung zum Elterngeldrecht ergangen sei. Dies allein reiche aber nicht aus, um eine weitere Klärungsbedürftigkeit zu begründen. Denn der Kläger unterziehe sich nicht der notwendigen Mühe, sich mit diesem Urteil und der dort zitierten weiteren Rechtsprechung des BSG zum intertemporalen Recht inhaltlich auseinanderzusetzen. Er versäume es demzufolge auf dieser Grundlage zu prüfen, ob sich aus dieser bereits ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung schon ausreichende Anhaltspunkte ergeben würden, seine Fragen zu beantworten. Sei dies aber der Fall, gilt eine Rechtsfrage als höchstrichterlich geklärt.
Zudem habe der Kläger auch nicht in der gebotenen Weise aufgezeigt, ob seine Fragen überhaupt klärungsbedürftig seien. Er habe nicht hinreichend dargelegt, ob es in dem von ihm angestrebten Revisionsverfahren notwendig auf deren Beantwortung ankäme. Er habe nicht ausgeführt, ob auf der Grundlage des vom LSG festgestellten Sachverhalts nach den auf der Basis seiner Rechtsauffassung jeweils geltenden und anzuwendenden rechtlichen Maßstäben bei der (Gesamt-) GdB-Bemessung der Prozess zu seinen Gunsten ausgehen würde.
Rechtliche Grundlagen
§ 160 Sozialgerichtsgesetz (SGG), § 160a Sozialgerichtsgesetz (SGG),
§ 160 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2. das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3. ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.
§ 160a Sozialgerichtsgesetz (SGG)
(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.
(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.
(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.
(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.
(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.