Während der Pandemie können Gerichte vorübergehend auch teilweise auf Videotechnik zurückgreifen. Copyright by Adobe Stock/everythingpossible
Während der Pandemie können Gerichte vorübergehend auch teilweise auf Videotechnik zurückgreifen. Copyright by Adobe Stock/everythingpossible

 Die Kontaktsperre erlaubt nicht, dass Vorsitzende, ehrenamtliche Richter, Parteien und ihre Prozessbevollmächtigten in der üblichen Weise zu Gerichtsverhandlungen zusammenkommen.
Das ist ein schwerwiegendes Problem, weil der Rechtsstaat seiner Pflicht nicht nachkommt, den Bürger*innen für alle Rechtsverletzungen und Rechtsstreitigkeiten den gerichtlichen Schutz in angemessener Zeit zur Verfügung zu stellen. Gerade in Arbeitsgerichtsverfahren ist es wichtig und notwendig, dass die Verfahren nicht zu lange dauern. Das Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) schreibt sogar vor, dass in Kündigungsschutzverfahren die Güteverhandlung innerhalb von zwei Wochen nach Klageerhebung stattfinden soll (§ 61a Absatz 2 ArbGG).

Gerichtsverhandlungen als Videokonferenzen?

Gleich nach Beginn der Pandemie hat es Initiativen insbesondere von Seiten einiger Richter*innen gegeben, die gesetzlichen Vorschriften abzuändern und Gerichtsverhandlungen in Form von Videokonferenzen zu ermöglichen. Mitte April 2020 wurde ein „Referentenentwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID 19-Epidemie sowie zur Änderung weiterer Gesetze“ vorgelegt. Ziel war, die Möglichkeit ausweiten, Videokonferenzen für Gerichtsverhandlungen zu nutzen. Zudem sollte der/die Vorsitzende anordnen können, dass ehrenamtlichen Richter*innen an der mündlichen Verhandlung mittels Übertragung in Bild und Ton von einem anderen Ort aus als dem Gericht teilnehmen. Diesen Entwurf diskutierten Jurist*innen bundesweit kontrovers.

Dabei ging es Niemanden darum, den Einsatz zeitgemäßer Technologien zu verhindern. Auf einer Online-Tagung des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes am 23. April 2020 etwa drückten verschiedene Teilnehmer*innen vielmehr ihre Sorge aus, dass unter dem Eindruck der Pandemie Regelungen vorschnell eingeführt würden, die den Einstieg in den Ausstieg aus der bisherigen Qualität des gerichtlichen Rechtsschutzes bedeuten könnten.

Gerichtsverhandlungen müssen an einem konkreten Ort stattfinden, an dem das gesamte Gericht anwesend ist und alle Beteiligten anwesend sein können

Bislang regelte die Zivilprozessordnung (ZPO) bereits, dass Parteien, ihren Bevollmächtigten und Zeugen gestattet werden kann, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird dann zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen (§ 128a ZPO; gemäß § 46 Absatz 2 ArbGG auch für Arbeitsgerichtsverfahren anwendbar). Dadurch werden Videokonferenzen aber nicht erlaubt. Die eigentliche Verhandlung findet in einem Gerichtssaal statt. Vorsitzender und ehrenamtliche Richter haben nicht die Möglichkeit, etwa per Homeoffice an der Verhandlung über eine Videokonferenz teilzunehmen. Zudem kann auch niemand den Parteien und ihren Bevollmächtigten verbieten, im Gerichtssaal an der Verhandlung teilzunehmen, wenn sie es denn wollen.

Aus gutem Grund finden nicht nur geheime Beratung und Abstimmung zwischen dem /der Vorsitzenden und den ehrenamtlichen Richter*innen im Beisein aller Richter*innen der Kammer an einem bestimmten Ort statt. Das Grundgesetz schreibt den gesetzlichen Richter vor und bestimmt, dass Ausnahmegerichte unzulässig sind. Dabei handelt es sich um ein grundlegendes Recht in einem Rechtsstaat.

Ehrenamtliche Richter*innen sind gesetzliche Richter im Sinne des Grundgesetzes

Das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) verlangt grundsätzlich die mündliche Beratung über den Streitgegenstand im Beisein sämtlicher beteiligten Richter (§ 193 Abs. 1, § 194 GVG). Nach Auffassung des BAG kann allenfalls eine Nachberatung im Wege einer Telefonkonferenz stattfinden. Diese könne die mündliche Beratung kann nicht ersetzen, sondern nur neben sie treten.

Zu den gesetzlichen Richter gehören auch die ehrenamtlichen Richter*innen bei den Arbeits- und Sozialgerichten. Diese sind keine Richter*innen zweiter Klasse. Sie haben ein vollwertiges Richteramt inne und sind für die Rechtsfindung von entscheidender Bedeutung. Dabei kommt es auch auf die Wahrnehmung von Zwischentönen im persönlichen Kontakt mit den Beteiligten in einem Gerichtsverfahren an. Die ehrenamtlichen Richter müssen in der Lage sein, auch feine Nuancen in der mündlichen Verhandlung wahrzunehmen.

Videokonferenzen stehen dem Grundsatz entgegen, dass Gerichtsverhandlungen öffentlich sind

Gerichtsverhandlungen sind öffentlich, wenn nicht die Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit vorliegen. Dieser Grundsatz ist für einen Rechtsstaat elementar. Garantiert er doch, dass nicht im stillen Kämmerlein geurteilt werden kann, sondern alle Bürger*innen sich davon überzeugen können, dass ein faires Verfahren stattfindet.

Außerdem sind in Deutschland Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Artikel 14 des UN-Sozialpaktes unmittelbar geltendes Recht. Nach diesen Regelungen hat jede Person das Recht, dass über ihr Anliegen in einem fairen Verfahren öffentlich verhandelt wird.

Online-Verhandlungen jetzt teilweise möglich

Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) unter anderem für die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit die Möglichkeit des Einsatzes von Videokonferenzen in der mündlichen Verhandlung ausgebaut. Der Bundesrat hat diesem Gesetz jetzt zugestimmt, sodass es in Kraft treten kann.

Im Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) und im Sozialgerichtsgesetz (SGG) wird vorübergehend, das heißt bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes, die Möglichkeit geschaffen, dass ehrenamtliche Richter der mündlichen Verhandlung mittels zeitgleicher Übertragung in Bild und Ton von einem anderen Ort aus als dem Gericht teilnehmen können, wenn ihnen das persönliche Erscheinen an der Gerichtsstelle aufgrund der epidemischen Lage unzumutbar ist. Zudem soll von der Möglichkeit der Nutzung von Videokonferenzen nach § 128a der Zivilprozessordnung (ZPO) im Arbeitsgerichtsverfahren und nach § 110a SGG im Sozialgerichtsverfahren Gebrauch gemacht werden. Das Gericht soll diese Form der Teilnahme während einer epidemischen Lage gestatten.

Das sagen wir dazu:

Die Corona-Pandemie hat uns alle kalt erwischt. Viele Maßnahmen, die der Gesetzgeber in Zusammenhang mit der Krise beschlossen hat, wären vor einigen Monaten noch undenkbar gewesen. Für jeden verständlich und angemessen ist es selbstverständlich, dem Gesundheitsschutz einen sehr hohen Stellenwert einzuräumen. Es darf aber bezweifelt werden, ob die Änderungen im Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz insoweit wirklich zielführend sind. In allen Instanzen gibt es gerade einmal zwei ehrenamtliche Richter*innen. Ihre Präsenz bedeutet mit einiger Sicherheit keine erhebliche Gefahr für die anderen Prozessbeteiligten, zumal wenn alle Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten werden.

Aber auch für die ehrenamtlichen Richter*innen dürfte eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung und an der nichtöffentlichen Beratung der Kammer oder des Senats nicht annähernd so gefährlich sein, wie der Einkauf in einem Supermarkt. Es muss erlaubt sein, zu zweifeln, ob hier nicht wesentliche Grundsätze des Rechtsstaates ohne Zwang geopfert werden.

Die Technik dient dem Menschen, nicht der Mensch der Technik

Der Referentenentwurf von Mitte April reiht sich ein in eine Reihe von Initiativen, die sich die auf ihre Fahnen geschrieben haben, die Gesellschaft für eine umfassende Digitalisierung aller Lebensbereiche fit zu machen.  Digitalisierung ist die Prämisse, alles andere muss dem untergeordnet werden.

Es geht hier nicht um Bedenkenträgerei und erst recht nicht um „Maschinenstürmerei“. Die Möglichkeiten, die eine fortschrittliche Technik den Menschen bietet, müssen aber im Interesse des Menschen eingesetzt werden. Technik ist immer Werkzeug, Lebensbedingungen zu verbessern. Werkzeuge sind dazu da, das Leben einfacher und menschlicher zu machen. Der Mensch hat das Rad erfunden, weil er dadurch in die Lage versetzt wird, leichter und schneller voranzukommen und notwendige Waren zu transportieren. Er hat sich nicht eine Welt gebaut, die den Einsatz von Rädern möglich macht. Technik dient den Menschen und nicht umgekehrt. Der Mensch und eine demokratische, rechts- und sozialstaatliche Ordnung haben das Primat. Dem hat sich nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Technik unterzuordnen.

Rechtliche Grundlagen

Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie
(Sozialschutz-Paket II)

Artikel 2
Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes
§ 114 des Arbeitsgerichtsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juli 1979 (BGBl. I S. 853, 1036), das zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2633) geändert worden ist, wird wie folgt gefasst:
§ 114 Arbeitsgerichtsgesetz
Infektionsschutz bei epidemischen Lagen von nationaler Tragweite

(1) Das Gericht kann abweichend von 128a der Zivilprozessordnung einem ehrenamtlichen Richter bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes von Amts wegen gestatten, an einer mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus beizuwohnen, wenn es für ihn aufgrund der epidemischen Lage unzumutbar ist, persönlich an der Gerichtsstelle zu erscheinen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an den anderen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Die Übertragung wird nicht aufgezeichnet.
(2) Absatz 1 gilt entsprechend für die Beratung, Abstimmung und Verkündung der Entscheidung. Satz 1 gilt auch, wenn die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erfolgt. Die an der Beratung und Abstimmung Teilnehmenden haben durch geeignete Maßnahmen die Wahrung des Beratungsgeheimnisses sicherzustellen; die getroffenen Maßnahmen sind zu protokollieren.
(3) Das Gericht soll den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes im Falle des § 128a der Zivilprozessordnung von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort im Wege der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Satz 1 gilt entsprechend für die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen.

Artikel 4
Änderung des Sozialgerichtsgesetzes
§ 211 des Sozialgerichtsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. September 1975 (BGBl. I S. 2535), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 22. März 2020 (BGBl. I S. 604) geändert worden ist, wird wie folgt gefasst:
§ 211 Sozialgerichtsgesetz
(1) Das Gericht kann einem ehrenamtlichen Richter bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes von Amts wegen gestatten, an der mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus teilzunehmen, wenn es für ihn aufgrund der epidemischen Lage unzumutbar ist, persönlich an der Gerichtsstelle zu erscheinen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an den anderen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Die Übertragung wird nicht aufgezeichnet.
(2) Absatz 1 gilt entsprechend für die Beratung und Abstimmung sowie für Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung. Die an der Beratung und Abstimmung Teilnehmenden haben durch geeignete Maßnahmen die Wahrung des Beratungsgeheimnisses sicherzustellen; die getroffenen Maßnahmen sind zu protokollieren.
(3) Bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes soll das Gericht den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen im Falle des § 110a von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort im Wege der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Satz 1 gilt entsprechend für Erörterungstermine nach § 106 Absatz 3 Nummer 7 sowie für die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen. Die Übertragung wird nicht aufgezeichnet.