Eine Diabetes Mellitus-Erkrankung bedingt erst dann einen Grad der Behinderung von 50, wenn die betroffene Person auch unter Berücksichtigung des Therapieaufwands insgesamt in ihrer Lebensführung erheblich beeinträchtigt ist. Diesen Leitsatz stellte das Bundessozialgericht (BSG) 2012 auf. Seitdem beschäftigen sich die Sozialgerichte in zahlreichen Einzelfällen damit, was eine erhebliche Beeinträchtigung in der Lebensführung bedeutet.
Klägerin muss sechsmal täglich Blutzucker messen und Insulin anpassen
Das Sozialgericht Karlsruhe hatte folgenden Fall zu entscheiden: Streitig war die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft (also einen Grad der Behinderung von 50) für eine 1997 geborene Klägerin. Diese litt am Diabetes mellitus Typ I. Das Landesversorgungsamt hatte wegen der Notwendigkeit eines erheblichen Therapieaufwandes einen Grad der Behinderung von 40 festgestellt. Denn die Klägerin musste mindestens sechs Mal täglich Blutzuckermessungen vornehmen und die Gabe von Insulin jeweils situationsbedingt anpassen.
Regelung in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen
In der VERSORGUNGS-MEDIZIN-VERORDNUNG des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sind Grundsätze aufgestellt, nach denen das Ausmaß einer auszugleichenden Schädigungsfolge festzustellen ist.
Für Diabetes mellitus ist dort für die Feststellung einer Schwerbehinderung folgendes geregelt:
Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung.
Auch die versorgungsmedizinischen Grundsätze helfen nicht weiter bei der Frage wann ein Erkrankter in der Lebensführung gravierend beeinträchtigt ist. Denn was sind „erhebliche Einschnitte“?
Lebensführung muss nicht zwingend in mehreren Bereichen eingeschränkt sein
Die Gerichte schauen sich jeden Einzelfall an unter dem Gesichtspunkt welche Bereiche der Lebensführung betroffen sind und wie stark. Dabei haben einzelne Landessozialgerichte die Meinung vertreten, eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung komme aus Rechtsgründen nur in Betracht, wenn die erheblichen Einschnitte mindestens zwei verschiedene Lebensbereiche betreffen. Diese Auffassung teilt das BSG nicht. Auch wenn nur ein Lebensbereich betroffen ist, kommt eine gravierende Beeinträchtigung in Betracht. Bei der auch hier anzustellenden Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche lasse sich eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung allerdings nur unter strengen Voraussetzungen bejahen, so das BSG.
Planung des Tagesablaufs, Gestaltung der Freizeit, Zubereitung der Mahlzeiten und Mobilität wichtige Teilbereiche
Das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt stellt auf die verschiedenen Teilbereiche ab, in denen sich therapie- und krankheitsbedingte Einschränkungen in der Lebensführung auswirken können. Zur Bejahung einer gravierenden Einschränkung müsse festgestellt werden, ob gravierende Auswirkungen des Diabetes mellitus in den Bereichen der Planung des Tagesablaufs, der Gestaltung der Freizeit, der Zubereitung der Mahlzeiten und der Mobilität vorliege. Das sah das Landessozialgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 nicht als gegeben an, da die Klägerin nach ihren Angaben zum Tagesablauf ihren Haushalt problemlos meistern, Gartenarbeit verrichten, Fahrradfahren und an den privaten Unternehmungen der Familie praktisch ohne Einschränkungen teilnehmen kann. Berücksichtigt wurde hier auch die Bewältigung von körperlich belastenden Fernreisen.
Einschränkungen in Schule, Freizeit und Berufswahl
Im Fall, den das Sozialgericht Karlsruhe zu entscheiden hatte, begehrte die Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 50; anerkannt war ein GdB von 40. Die Schwerbehinderung ergebe sich, weil ihre Erkrankung schon allein wegen des zeitlichen Aufwands für die Therapien zu erheblichen Einschränkungen in allen Lebenslagen, insbesondere in der Schule, Freizeit und bei der Berufswahl führe.
Dem schloss sich das Gericht nicht an und wies die Klage ab.
Therapieaufwand allein begründet keine gravierende Beeinträchtigung
Das Gericht berief sich auf die versorgungsmedizinischen Grundsätze, wie sie in der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ausgelegt werden. Danach setzt die Schwerbehinderteneigenschaft voraus, dass die an Diabetes erkrankten Menschen zusätzlich zur Insulintherapie durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind. Als Beispiel dafür nannte das Sozialgericht Besonderheiten der Diabetes-Therapie oder unzureichenden Therapieerfolge.
Das Gericht hatte deshalb geprüft, ob eine zusätzliche, also über die mit der Insulintherapie und der Krankheit an sich verbundenen Nachteile hinausgehende ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung vorliegt. Und das wurde bei der Klägerin verneint, weil die behandelnden Ärzte eine gute Blutzuckereinstellung ohne Komplikationen bestätigt haben.
Die Klägerin hatte sich auch auf einen (zukünftigen) Nachteil auf dem Arbeitsmarkt berufen, den sie als Diabetikerin habe und der einen weiteren Nachteil darstelle. Dieser sei aber bei der GdB-Bemessung nicht zu berücksichtigen, so das Sozialgericht Karlsruhe.
Besonderes berufliches Betroffensein irrelevant
Die Bewertung im Rahmen einer Behinderung ist grundsätzlich unabhängig vom Beruf zu sehen. Speziell zur Erkrankung Diabetes hat das Bundessozialgericht 2014 ausgeführt, es bedürfe zur Beurteilung des Vorliegens einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung einer Gesamtbetrachtung der Einschnitte, die den behinderten Menschen in allen Lebensbereichen beeinträchtigen. Ein eventuelles besonderes berufliches Betroffensein sei für den GdB irrelevant.
Wann ist das Ausmaß einer „darüber noch hinausgehenden ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung“ erreicht?
In der Rechtsprechung werden Einschränkungen auf Reisen, beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen und bei der Nahrungsaufnahme nicht nur als signifikante, sondern als stärkere Teilhabebeeinträchtigung anerkannt. Aber nach der Gesamtbetrachtung im Einzelfall ist Ergebnis oft, dass das Ausmaß einer „darüber noch hinausgehenden ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung“ nicht erreicht ist. So auch im Falle des Sozialgerichts Karlsruhe.
Doch was zählt nun eigentlich? Folgendes beziehen die Gerichte in ihre Überlegungen ein:
- Wie der Therapieerfolg zu werten ist, also die Stoffwechsellage eingestellt werden kann oder ob die Blutzuckerwerte unvorhersehbar stark schwanken.
- Ob durch eine schlechte Einstellungsqualität die Leistungsfähigkeit und damit die Teilhabefähigkeit am Leben in der Gesellschaft erheblich beeinträchtigt ist.
- Ob in den Bereichen Tagesablauf, Gestaltung der Freizeit, Zubereitung der Mahlzeiten und der Mobilität Einschränkungen vorliegen.
- Ob es bei Entstehen von Unterzuckerungszuständen zu schweren hypoglykämischen Entgleisungen mit erforderlicher Fremdhilfe gekommen ist.
- Ob die Erkrankung zu nennenswerten Zeiten von Arbeitsunfähigkeit oder stationärer Behandlungsbedürftigkeit geführt hat.
- Ob neben den krankheitsimmanenten Symptomen wie Schwindel und Müdigkeit weitere Symptome vorliegen.
- Ob Folgeschäden an anderen Organen aufgetreten sind.
- Ob Besonderheiten bei der Therapie bestehen, etwa wenn ein Erkrankter aufgrund persönlicher Defizite für eine Injektion erheblich mehr Zeit benötigt als üblich
Wann das Ausmaß einer „darüber noch hinausgehenden ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung“ erreicht ist und damit der Betroffene durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt ist, wird immer eine Einzelfallentscheidung bleiben.
Zur Vertiefung können folgende in Bezug genommene Entscheidungen im Volltext nachgelesen werden:
Bundessozialgericht, Urteil vom 16.12.2014, B 9 SB 2/13 R
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 03. Dezember 2014 - L 7 SB 36/12
Bundessozialgericht, Urteil vom 25.10.2012, B 9 SB 2/12 R
Weitere Informationen erhalten Sie in unserem Ratgeber für Menschen mit Behinderung - „Was bringt mir welcher GdB?“
und
„10 Fragen zur Schwerbehinderung“
Lesen Sie außerdem zum Thema Schwerbehinderung „Merkwürdiges zu Merkzeichen“
Hier können Sie die Versorgungsmedizinischen Grundsätze vollständig nachschlagen.
Ein Auszug zum Diabetes mellitus finden Sie in unserem Praxistipp.
Rechtliche Grundlagen
Auszug aus Versorgungsmedizin-Verordnung zu Diabetes
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS rechtfertigt. Der GdS beträgt 0.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40.
Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50.
Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.