Das Bild symbolisiert die Vielfalt und Komplexität des menschlichen Geistes und die kognitive Vielfalt in unserer Gesellschaft
© Adobe Stock - Von TensorSpark
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Die 27 Jahre alte Klägerin ist neben einem Bronchialasthma vor allem durch eine erhebliche psychische Erkrankung mit Verhaltensstörungen im Sinne eines Asperger-Syndroms in ihrem Leben stark eingeschränkt. 

2021 stellte sie einen Antrag nach dem Sozialgesetzbuch IX. Die zuständige Behörde legte den Grad der Behinderung (GdB) auf 40 fest. Hierbei bewertete sie eine Funktionsstörung der Lungen- und Atemwege mit einem Einzel-GdB von 30 und ein seelisches Leiden im Zusammenhang mit einer Verhaltensstörung mit einem Einzel-GdB von 20.

Klageziel ist ein GdB von mindestens 50

Da es nach dem Widerspruchsverfahren bei dem GdB von 40 verblieb, klagte der DGB Rechtsschutz Hannover auf die Anerkennung einer Schwerbehinderung.

Im sozialgerichtlichen Verfahren wurden zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt und sodann ein Sachverständiger mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt. Der Facharzt für Orthopädie und Sozialmedizin stufte zwar die psychische Erkrankung nicht als leichtere, sondern als stärker behindernde Störung ein, stimmte aber im Ergebnis mit dem Gesamt-GdB von 40 überein. 

Doch das Gutachten berücksichtigte die Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin nur unzureichend. Der DGB Rechtsschutz berief sich darauf, dass die Persönlichkeitsstörung (Asperger-Syndrom) sowie die schwere depressive Episode komplex und mindestens ein Einzel-GdB von 40 erforderlich sei.

Es wurde auch die Frage aufgeworfen, inwiefern der Orthopäde und Sozialmediziner das Ausmaß der psychischen Erkrankung der Klägerin beurteilen konnte.

Gericht weicht vom Gutachten ab

Die Richter:innen beim Sozialgericht bewerteten die psychische Erkrankung der Klägerin anders als der Gutachter. Für das seelische Leiden im Zusammenhang mit den Verhaltensstörungen wird ein Einzel-GdB von 40 als sach- und leidensgerecht angesehen. 

Das wird anhand der Versorgungsmedizinischen Grundsätze, die Teil der Versorgungsmedizin-Verordnung sind, begründet. 

Danach bedingen stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive oder phobische Störungen, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40. 

Das Asperger-Syndrom wird aufgezählt unter „Tief greifende Entwicklungsstörungen“. Die Bewertung richtet sich nach dem Ausmaß der sozialen Anpassungsschwierigkeiten:

ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten GdB von 10 bis 20

leichte soziale Anpassungsschwierigkeiten GdB von 30 bis 40 

mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten GdB von 50 bis 70 

schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten GdB von 80 bis 100

Was versteht man unter sozialen Anpassungsschwierigkeiten?

Soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche (wie zum Beispiel Regelschule, allgemeiner Arbeitsmarkt, öffentliches Leben, häusliches Leben) nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung (zum Beispiel durch Eingliederungshilfe) gegeben ist oder wenn die Betroffenen einer über das dem jeweiligen Alter entsprechende Maß hinausgehenden Beaufsichtigung bedürfen. 

Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten sind anzunehmen, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (zum Beispiel einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist. 

Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist. 

Bewertungsrahmen wird nach oben ausgeschöpft

Die Richter:innen hatten sich in der mündlichen Verhandlung ein Bild von der Klägerin machen können. Danach hielten sie einen Einzel-GdB von 30 nicht für angemessen. Die Klägerin habe glaubhaft und sichtlich bewegt dargelegt, dass sie in ihrer Freizeit nicht viel unternehme, die meiste Zeit zu Hause sei und zu ihrer Familie keinen Kontakt habe. Das Gericht sah in der Gesamtschau bei der Klägerin eine stärker behindernde Störung, bei der der vorgegebene Rahmen nach oben auszuschöpfen sei. 

Ins Gewicht fiel auch, dass sich die Klägerin durchgängig einer entlastenden psychiatrischen Gesprächstherapie unterzieht und auch schon kinderpsychologisch behandelt worden ist. 

Probleme in der Arbeitswelt zu bestehen

Entscheidend berücksichtigt hat das Gericht, dass es der Klägerin schwerfällt, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. Die Klägerin hatte, und dies wesensbedingt und damit als Ausprägung der Erkrankung, insbesondere Schwierigkeiten, bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber zu bestehen. 

Da sich die psychische Veränderung beruflich auswirke und augenscheinlich eine verminderte Einsatzfähigkeit bedinge, die auch zu einer beruflichen Gefährdung führe, sei die stärker behindernde Störung im Zusammenhang mit dem Asperger-Syndrom mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten. 

Das sagen wir dazu:

Das Gericht hat sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung durch direkte Fragen an die Klägerin ein umfassendes Bild von den Auswirkungen ihrer Funktionsbeeinträchtigungen gemacht. Das hebt Lukas Klemenz vom DGB Rechtsschutz, der die Klägerin im sozialgerichtlichen Verfahren vertrat, als positiv heraus. Das Gericht habe dabei zurecht berücksichtigt, dass die Klägerin im Berufsleben bisher trotz ihres jungen Alters nicht richtig Fuß fassen konnte. Leider hat auch ihr Ausbildungsbetrieb sie nach bestandener Prüfung nicht in ein Arbeitsverhältnis übernommen.