Egal wie schlecht es einem geht: Prozessrecht kennt keine Gnade. Copyright by Adobe Stock/Dan Race
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Der Kläger hatte einen Grad der Behinderung (GdB) von 60. Dem lag insbesondere eine neurologische Krankheit mit Lähmungen der Beine zu Grunde. Weil sich sein Gesundheitszustand verschlechterte beantragte er, einen höheren GdB festzustellen und das Merkzeichen aG (außergewöhnlliche Gehbehinderung) anzuerkennen.
 

Das beklagte Land kam den Antrag nach, indem es den GdB auf 80 feststellte

Dem kam das beklagte Land nach, indem es den GdB auf 80 feststellte Das Merkzeichen aG erkannte das Land nicht an. Der Kläger beschritt daraufhin den Weg zum Sozialgericht, nachdem auch das Widerspruchsverfahren hinsichtlich des gewünschten Merkzeichens erfolglos geblieben war.
 
Die Klage erhob er „wegen: Merkzeichen aG“. In der Klagebegründung hieß es dann aber später auch, dass die vorliegenden Erkrankungen es rechtfertigten, den GdB auf 100 anzuheben. Zwischenzeitlich hatte der Kläger nämlich erneut einen Schlaganfall erlitten.  Er stellte dann schließlich auch den Antrag, das Merkzeichen aG anzuerkennen sowie den GdB auf 100 zu erhöhen.
 

Dem ist das Sozialgericht nicht gefolgt

Dem ist das Sozialgericht (SG) nicht erfolgt. Die Klage hinsichtlich des Merkzeichens hielt es für unbegründet. Die Klage, einen höheren GdB festzustellen, hielt es demgegenüber sogar für unzulässig.
 
Dass das Merkzeichen aG nicht anerkannt werden konnte, lag am Ergebnis der medizinischen Gutachten. Der Kläger verfügte aus Sicht des Gerichts über eine restliche Gehfähigkeit, die den strengen Anforderungen des Merkzeichens aG (noch) nicht genügte.
 

Das besondere an der Entscheidung ist, dass das Gericht den Antrag, den GdB zu erhöhen, für unzulässig hielt

Das Besondere an der Entscheidung ist aber, dass das Gericht den Antrag, den GdB auf 100 zu erhöhen schon für unzulässig hielt. Der Kläger habe nämlich hinsichtlich dieses Antrages die Klagefrist versäumt.
 
Die Klage könne nur innerhalb eines Monats nachdem der Widerspruchsbescheid zugegangen sei erhoben werden. Der Kläger habe die Klage „wegen: Merkzeichen aG“ erhoben. Der Hinweis, wonach er auch einen höheren GdB wolle, finde sich erstmals in der Klagebegründung. Da sei die einmonatige Klagefrist aber schon abgelaufen gewesen.
 

Das Gericht weist darauf hin, dass ein Bescheid auch teilweise bestandskräftig werden kann

Das SG weist in seinem Urteil darauf hin, dass ein Bescheid auch teilweise bestandskräftig werden könne. Werde nämlich die Klage nur bezogen auf einen Teil der Regelungen des Bescheides erhoben, würde der Rest bindend.
 
Zwar müsse ein Gericht grundsätzlich davon ausgehen, dass im Zweifel ein umfassendes Rechtsschutzbedürfnis gegeben sei. Vorliegend habe der Kläger aber ausdrücklich zunächst nur hinsichtlich des Merkzeichens aG geklagt. Dass er auch gegen die Höhe des GdB vorgehen wollte, sei bis zu seiner Klagebegründung nicht ersichtlich gewesen.
 

Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für ein Merkzeichen und der GdB sind unterschiedliche Streitgegenstände

Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG und die Höhe des GdB seien jedoch zwei unterschiedliche Streitgegenstände. Richte sich die Klage zunächst lediglich dagegen, dass das Merkzeichen abgelehnt wurde, und mache der Kläger erst zu einem späteren Zeitpunkt zusätzlich einen höheren GdB geltend, so erweitere er damit die Klage um einen zusätzlichen Streitgegenstand. Dieser zusätzliche Streitgegenstand komme damit nachträglich hinzu.
 

Eine solche Erweiterung der Klage stellt eine Klageänderung dar

Eine solche Erweiterung der Klage stelle eine Klageänderung dar. Klageänderungen seien jedoch nur zulässig, wenn die prozessualen Voraussetzungen für eine neue Klage vorlägen. Dazu zähle auch die Klagefrist.
 

Für die Klagefrist muss auf den Zeitpunkt der Klageänderung abgestellt werden

Für die Klagefrist müsse auf den Zeitpunkt der Klageänderung abgestellt werden. Sei der Bescheid zu diesem Zeitpunkt schon bestandskräftig, also bindend, sei die Klage insoweit unzulässig. Entsprechendes sei hier anzunehmen.
 
Da das Gericht die Klage hinsichtlich des gewünschten höheren Grades der Behinderung bereits für unzulässig hielt, brauchten dazu auch keine weiteren Gutachten mehr eingeholt zu werden.

SG Karlsruhe, Urteil vom 30. Oktober 2019

Das sagen wir dazu:

Bei diesem Fall zeigt sich, dass auch im Sozialrecht prozessrechtliche Fallstricke lauern können. Schon bei der Klageerhebung muss der*die Betroffene daher immer genau prüfen, weshalb die Klage erhoben werden soll. Beschränkt man sich dabei auf einen Streitgegenstand, dann gehen andere Streitgegenstände unter, wenn sie nicht mehr innerhalb der Klagefrist geltend gemacht werden können.

Da hilft dann nur ein neuer Antrag. Allerdings ist das auch nicht immer ganz einfach; denn wenn die Behörde über einen Streitgegenstand bereits bindend entschieden hat, wird ein neuer Verschlimmerungsantrag immer nur dann helfen, wenn auch eine Verschlimmerung nachgewiesen werden kann.

Ist das nicht möglich, bleiben nur die Rücknahmevorschriften des SGB X. Die enthalten jedoch auch eigene, zusätzliche Bestimmungen und verhelfen nicht immer ganz leicht zum gewünschten Erfolg.