Die Klägerin litt an einer Vielzahl von Krankheiten auf unterschiedlichen medizinischen Fachgebieten. Sie stellte deshalb einen Antrag, bei ihr einen Grad der Behinderung anzuerkennen.
Kein Gutachter stellte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 50 fest
Sie hatte damit allerdings keinen Erfolg und beschritt den Rechtsweg. Angelangt beim Sozialgericht, erstellten unterschiedliche Ärzte mehrere Gutachten. Jeder Arzt bildete dabei bezogen auf sein eigenes Fachgebiet einen Teil-Grad der Behinderung und äußerte sich abschließend auch zum Gesamtgrad der Behinderung. Keiner der Gutachter stellte einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 fest. Den benötigte die Klägerin jedoch, um als schwerbehinderter Mensch anerkannt zu werden.
Mit dem Ergebnis der Gutachten war sie nicht einverstanden. Das Sozialgericht musste daher ein Urteil sprechen. Auch das Gericht schloss sich der Auffassung der Klägerin nicht an. Es stellte nur einen GdB von 30 fest. Dabei legte es die so genannten Versorgungsmedizinischen Grundsätze zugrunde.
Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze traten 2015 in Kraft
Das Gesetz gebe vor, dass die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft als GdB festgestellt würden. Maßstäbe hierfür enthielten die Versorgungsmedizinischen Grundsätze, die der Gesetzgeber 2015 in Kraft gesetzt habe. Dabei handele es sich um eine verbindliche Rechtsquelle, aufgrund der der GdB und auch die Merkzeichen gebildet würden.
Die Feststellung des GdB sei eine rechtliche Bewertung von Tatsachen. Diese würden mithilfe von Sachverständigen ermittelt. Deshalb sei das Gericht an Einzelwerte, die Sachverständige vorgeschlagen hätten, nicht gebunden. Das gelte auch für den Gesamt-GdB. Gerichte dürften diesen in eigener Verantwortung bestimmen. Das geschehe in freier Beweiswürdigung aufgrund richterlicher Erfahrung.
Die Klägerin war psychisch krank
Die Klägerin leide ausweislich der medizinischen Feststellungen an gravierenden Gesundheitsstörungen auf nervenfachärztlichen Gebiet. Leichtere psychovegetative oder psychische Störungen seien nach den Versorgungsmedizinischhen Grundsätzen mit einem Einzel-GdB von höchstens 20 zu bewerten. Lägen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor, käme es zu einem Einzel-GdB von 30-40. Lediglich schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten berechtigten, einen GdB von 50-70 zu vergeben.
Der nervenfachärztliche Gutachter habe verschiedene depressive Symptome beschrieben, hätte die Beschwerden jedoch nicht eindeutig beurteilen können. Deutlich habe er jedoch eine subjektiv empfundene, große psychische Belastung der Klägerin erkannt. Ein anderer Gutachter habe auf eine chronische Migräne hingewiesen.
Bei der Klägerin lag ein Teil-GdB von 30 vor
Für all diese Beschwerden auf nervenfachärztlichem Gebiet hätten die Gutachter den GdB zutreffend auf 30 festgelegt. Hinzu kämen Erkrankungen auf kardiologischen Gebiet mit einem Teil-GdB von 10 sowie Wirbelsäulenbeschwerden. Die Beschwerden in der Wirbelsäule rufe keinen Teil-GdB von wenigstens 10 hervor.
Für die Bildung des Gesamt-GdB seien die Auswirkungen aller Beeinträchtigungen maßgeblich. Dabei müssten die wechselseitigen Beziehungen dieser Beeinträchtigungen zueinander betrachtet werden. Die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen könnten sich durchaus unterschiedlich aufeinander auswirken.
Maßgeblich ist die Auswirkung der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen
Das Gericht müsse deshalb berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen voneinander unabhängig seien und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens beträfen. Davon zu unterscheiden sei es, wenn sich einzelne Funktionsbeeinträchtigungen auf andere besonders nachteilig auswirkten. Schließlich könnten sich einzelne Funktionsbeeinträchtigungen auch überschneiden bzw. gegenseitig nicht verstärken.
Bei der Bildung des Gesamt-GdB sei zunächst von der Erkrankung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB hervorrufe. Im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen müsse das Gericht sodann prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer werde.
Die Entscheidung muss der Behinderung insgesamt gerecht werden
In diesem Schritt werde damit festgestellt, ob wegen einer weiteren Funktionsbeeinträchtigung ein Einzel-GdB von zehn oder mehr hinzuzufügen sei, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Stünden die Behinderungen unabhängig nebeneinander und beträfen sie völlig unterschiedliche Organsysteme, so werde der höchste Einzel-GdB entsprechend angemessen erhöht.
Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von zehn bedingten, führten allerdings zu keiner Erhöhung des Gesamt-GdB. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 sei es vielfach nicht gerechtfertigt, eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung anzunehmen.
Das Gericht vergab nur einen GdB von 30
Bei der Klägerin läge der Einzel-GdB von 30 auf nervenfachärztlichen Gebiet vor. Die weiteren Behinderungen seien nicht gravierend und führten deshalb auch nicht dazu, dass ein höherer GdB als 30 angenommen werden könne.
Sozialgericht Ulm, Urteil vom 24. Juni 2020
Das sagen wir dazu:
In der Praxis ist es immer wieder schwierig zu vermitteln, dass es bestimmte Regeln dafür gibt, wie aus Einzel-GdB ein Gesamtgrad der Behinderung gebildet werden kann. Das funktioniert nicht nach einem strengen Schema. Bekommt der eine unter Berücksichtigung verschiedener Einzel-GdB einen GdB von 50, so muss das beim anderen mit gleichen Einzel-GdB nicht unbedingt der Fall sein.
Wie das Gericht so schön schreibt: Das geschieht in freier Beweiswürdigung aufgrund richterlicher Erfahrung. Der Willkür des Gerichts ist man damit sicher nicht ausgesetzt. Die medizinische Seite einer Bewertung obliegt nach wie vor den Ärzten. Richter müssen sich dann zwar überlegen, welchen Gesamtgrad der Behinderung sie aus den medizinischen Feststellungen bilden, das wiederum ist jedoch rechtlich durchaus überprüfbar.
Das sagen wir dazu