Ein durchaus tragisches Verfahren hatten die Mitarbeiter*innen des Rechtsschutzbüros Neuruppin vor dem Sozialgericht zu vertreten. Die Klägerin, eine gelernte Ingenieurin für Werkstofftechnik und Materialprüfung, nahm einige Zeit vor Vollendung ihres 30. Lebensjahres berufliche Tätigkeiten im Bereich der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit auf. 20 Jahre erzielte sie so ihr Einkommen als versicherungspflichtig Beschäftigte.
Der Absturz kam 2011
2011 trat Arbeitslosigkeit ein. Nachfolgend war die Frau nur noch sporadisch berufstätig. Sechs Jahre später beantragte sie eine Rente wegen Erwerbsminderung. Sie gab an, zwischenzeitlich an schweren Depressionen, Panikattacken, Angstzuständen und Schwindel- sowie Ohnmachtszuständen zu leiden. Darüber hinaus wies sie auf eine starke Schwerhörigkeit hin.
Im Rentengutachten hieß es dazu, die Klägerin sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Eine Rente stehe ihr nicht zu. Auch im anschließenden Widerspruchsverfahren änderte die Rentenversicherung ihre Auffassung nicht.
Es kam zur Klage beim Sozialgericht. Dort ergab ein vom Gericht eingeholtes Gutachten, dass die Klägerin an einer schweren Alkoholabhängigkeit und einer dadurch verursachten Persönlichkeitsstörung leidet. Hinzu sei Mitte September 2020 ein Hirninfarkt mit Lähmungserscheinungen gekommen. Neben weiterer unterschiedlicher Beschwerden auf orthopädischem und internistischem Fachgebiet stellten die Gutachter auch eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit des linken Ohres fest.
Das Gutachten bestätigte die Leistungsminderung
Die Klägerin sei nicht mehr erwerbsfähig, hieß es im Gutachten. Diese Minderung der Leistungsfähigkeit bestehe seit September 2020. Die Klägerin hoffte nun darauf, die beantragte Erwerbsminderungsrente erhalten zu können. Dem war jedoch nicht so.
Die Rentenversicherung ließ das Gericht wissen, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Eintritts der Leistungsminderung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zur Gewährung der beantragten Erwerbsminderungsrente nicht erfüllt habe. Ihr fehlten mehrere Monate an Pflichtbeitragszeiten. Dem schloss sich das Sozialgericht an.
Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung haben teilweise oder voll erwerbsgeminderte Menschen, wenn sie vor dem Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt und in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit gezahlt haben.
36 Monate müssen es in den letzten fünf Jahren sein
Die im Gesetz bezeichneten fünf bzw. drei Jahre seien in Monate umzurechnen, so das Sozialgericht. Jeder Kalendermonat, der nur zum Teil mit rentenrechtlichen Zeiten belegt sei, gelte als voller Monat.
Diese besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen habe die Klägerin nicht erfüllt.
Der Leistungsfall der Erwerbsminderung bei der Klägerin sei mit dem Erleiden des Schlaganfalles Mitte September 2020 eingetreten. Das ergebe sich aus dem eingeholten Gutachten.
Der Fünfjahreszeitraum erstrecke sich damit von Mitte September 2015 bis Mitte September 2020. In diesem Zeitraum habe die Klägerin lediglich 18 Monate an Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt. Erforderlich wären jedoch 36 Monate gewesen. Eine Erwerbsminderungsrente könne sie deshalb nicht erhalten.
Die Altersrente geht nicht unter
Die 1964 geborene Klägerin wird zu einem späteren Zeitpunkt jedoch eine Rente bekommen können.
Für die Regelaltersrente mit Erreichen der Altersgrenze genügt die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit. Dafür müssen fünf Pflichtbeitragsjahre nachgewiesen sein. Diese Voraussetzungen hat die Klägerin erfüllt. Allerdings werden bis dahin noch einige Jahre verstreichen.
Möglicherweise kann die Frau auch unter Berücksichtigung ihrer Ausbildungszeiten, ihrer Pflichtbeitragsjahre und Zeiten der Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit insgesamt 35 anrechnungsfähige Versicherungsjahre nachweisen. Die reichen für die Zahlung einer vorgezogenen Altersrente aus.
Trotz der vollen Erwerbsminderung wird die Klägerin aber dennoch erst einmal bis zu diesem Zeitpunkt aller Wahrscheinlichkeit nach auf finanzielle Unterstützung des Staates angewiesen sein.
Hier geht es zum Urteil des Sozialgerichts Neuruppin
Rechtliche Grundlagen
§ 43 II SGB VI
(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch
1. Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
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