Ämter müssen umfassend beraten! Copyright by WavebreakMediaMicro/fotolia
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Mit dieser Frage hat sich der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 02.08.2018  beschäftigt.
 

Kläger beantragt Grundsicherung

Der Kläger hat einen Grad der Behinderung von 100. Deshalb ist er nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt durch eigenes Einkommen zu bestreiten.  Seine Mutter beantragte als Betreuerin im Dezember 2004 beim beklagten Landratsamt erfolgreich Leistungen der Grundsicherung.
 

Kläger hat Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung

Der Kläger ist nicht in der Lage, mindestens drei Stunden am Tag zu arbeiten. Außerdem hat er die erforderlichen Zeiten versicherungspflichtiger Beschäftigung zurückgelegt. Denn er besuchte zunächst eine Förderschule für geistig behinderte Menschen. Daran schlossen sich berufsbildende Maßnahmen sowie eine Tätigkeit in einer beschützenden Werkstatt an.
Deshalb hatte der Kläger von Anfang an auch einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
 

Landratsamt berät spät

Erst im Jahr 2011 wies eine (neue) Sachbearbeiterin des Landratsamtes die Mutter des Klägers darauf hin, dass ein Rentenanspruch bestehen könnte. Die Mitarbeiterin der Behörde empfahl, sich von der Deutschen Rentenversicherung beraten zu lassen.
 

Kläger verlangt Schadensersatz

Der Kläger verlangt vom Landratsamt 50.322,61 Euro nebst Zinsen. Er möchte den Differenzbetrag zwischen der Grundsicherung und der Erwerbsminderungsrente ersetzt bekommen. Er ist der Auffassung, dass das beklagte Landratsamt verpflichtet war, ihn gleich bei der Antragstellung auf die Möglichkeit einer Erwerbsminderungsrente hinzuweisen.
 

Entscheidungen von Land- und Oberlandesgericht

Das Landgericht gab dem Kläger Recht. Der Landkreis legte Berufung ein. Das Oberlandesgericht war der Auffassung, dass dem Kläger kein Schadensersatz zustehe.
 

Entscheidung des Bundesgerichtshof

Nach Auffassung des höchsten deutschen Zivilgerichts sei „ …  anlässlich der Beantragung von Leistungen der Grundsicherung zumindest ein Hinweis vonseiten des Beklagten notwendig gewesen, dass auch ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente in Betracht komme und deshalb eine Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten war.“

Das soziale Leistungssystem, so der Bundesgerichtshof weiter, werde immer komplizierter. Deshalb könne es nur funktionieren, wenn eine umfassende Beratung gewährleistet sei. Gezielte Fragen des Klägers bedingten, dass er weiß, welche Leistungen grundsätzlich für ihn in Betracht kämen. Dieses Wissen könne die Behörde aber nicht voraussetzen. Deshalb dürfe sie sich nicht darauf beschränken, auf Fragen und Anträge des Klägers zu reagieren. Vielmehr sei sie verpflichtet, „ … auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden …“ Außerdem liege die Kompliziertheit des Sozialrechts gerade in der Verzahnung und Verknüpfung der verschiedenen Sicherungsformen. Die Beratungspflicht sei deshalb „ … nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger anzuwenden habe.“
Das bedeutet, dass den Landkreis nicht nur im Hinblick auf die Normen der Grundsicherung eine Beratungspflicht trifft, sondern auch auf diejenigen des Rentenrechts. Deshalb sei „ … ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten gewesen.“
 

Zurückverweisung an das Oberlandesgericht

Da noch Unklarheiten in Bezug auf die Höhe des Schadensersatzes bestanden, hat der Bundesgerichtshof den Rechtsstreit an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Das ändert aber nichts daran, dass die Beratungspflicht des Landratsamtes sowie ein Anspruch auf Schadensersatz dem Grunde nach besteht.

Hier gehts zur Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs

Rechtliche Grundlagen

Amtshaftung

§ 839 BGB
Haftung bei Amtspflichtverletzung
(1) 1Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. 2Fällt dem Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag.
(2) 1Verletzt ein Beamter bei dem Urteil in einer Rechtssache seine Amtspflicht, so ist er für den daraus entstehenden Schaden nur dann verantwortlich, wenn die Pflichtverletzung in einer Straftat besteht. 2Auf eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzögerung der Ausübung des Amts findet diese Vorschrift keine Anwendung.
(3) Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden

Art. 34 GG
1Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht. 2Bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit bleibt der Rückgriff vorbehalten. 3Für den Anspruch auf Schadensersatz und für den Rückgriff darf der ordentliche Rechtsweg nicht ausgeschlossen werden.