Sehr häufige Unterbrechungen der Arbeit, etwa für längere Toilettengänge, können zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes führen. Copyright by sedatseven/Fotolia
Sehr häufige Unterbrechungen der Arbeit, etwa für längere Toilettengänge, können zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes führen. Copyright by sedatseven/Fotolia

Neumann legte Widerspruch ein, den die Deutsche Rentenversicherung Rheinland (DRV) zurückwies. Mit Hilfe des örtlichen Rechtsschutzbüros erhob er Klage beim Sozialgericht Aachen.
 

Weitere Untersuchung durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen

Im Sozialgerichtsverfahren wurde Neumann als Kläger erneut begutachtet. Dieser Gutachter führt aus, dass es ihm ermöglicht werden müsse, mehrfach täglich die Toilette aufzusuchen. Aufgrund der Erkrankung sei für jeden Toilettengang von einer Dauer von mindestens 15 Minuten auszugehen.
Gibt das ein Anspruch auf Verlängerung seiner Rente?
 
Neumann hatte noch eine technische Umschulung erfolgreich abgeschlossen. Dann war die Erkrankung seiner Verdauungsorgane so schlimm geworden, dass er nachts wie Tags unter schwersten und sehr häufigen Durchfällen litt.
 

Rentenbezug von fast 8 Jahren

Die DRV hatte ihm aufgrund seines schlechten Gesamtzustandes Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt. Diese Rente erhält, wer nicht in der Lage ist, mehr als drei Stunden arbeitstäglich eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten.
Ende April 2018 - nach fast acht Jahren - sollte Schluss sein mit der Rente. Neumanns Gesamtzustand habe sich deutlich gebessert.
 
Üblicherweise liest sich eine ablehnende Entscheidung der Rentenversicherungen wie folgt:
Nach den medizinischen Feststellungen liegt keine teilweise oder volle Erwerbsminderung (mehr) vor, weil Sie unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch 6 Stunden oder mehr einsatzfähig sind.

Ist nach einer Besserung eine vollschichtige Arbeit möglich? 

Dabei kommt es nicht drauf an, ob die zuletzt verrichtete Tätigkeit gesundheitlich noch möglich ist, sondern es reicht aus, wenn eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden oder mehr täglich möglich ist.
 
Eine Besserung räumt Neumann ein. Wegen Stuhldrang muss er aber jetzt 10 bis12 mal pro Tag die Toilette aufsuchen. Die Schübe kündigen sich nicht an, weshalb immer sofort eine Toilette erreichbar sein muss. Dies auch nachts. Das hat zur Folge, dass er zurückgezogen lebt und bei jedem notwenidgen Termin für sich überlegt, wo er unterwegs oder vor Ort schnell eine Toilette erreichen kann.
 

Rentenversicherung verweist auf Heimarbeitsplatz

Neumann könne doch Heimarbeit verrichten. Dann sei gewährleistet, dass er jederzeit eine Toilette aufsuchen kann.
In Rentenverfahren verweisen die Rentenversicherungen Arbeitnehmer*innen auf alle möglichen Arbeitsplätze, die es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kaum gibt. Das kennen wir. Dass die DRV hier aber auf einmal meint, eine Fähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten sei bereits dadurch erreicht, wenn jemand Heimarbeit machen kann, war für die Prozessvertreter vom DGB Rechtsschutz und das Gericht eine neue Argumentation.
 
Unzumutbar, denn Neumann hat nie Heimarbeit verrichtet. Zudem hätte er noch nicht einmal einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn er sich nur dem Arbeitsmarkt für Heimarbeit zur Verfügung stellt.
Auch das Gericht hielt eine solche Verweisung auf eine Heimarbeit für nicht möglich.
 

Rentenversicherung verweist auf persönliche Verteilzeit

Nicht jeder Arbeitnehmer, der aus gesundheitlichen Gründen schon mal seine Arbeit unterbrechen muss, hat Anspruch auf Erwerbsminderungsrente. Eine gewisse Unterbrechung der Arbeitszeit, müssen Arbeitgeber hinnehmen. Sehr häufige Unterbrechungen können zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes führen oder noch unter die sogenannte persönliche Verteilzeit fallen. Das wird häufig diskutiert, wenn Diabetiker auf kurze Zwischenmahlzeiten angewiesen sind, oder jemand in regelmäßigen Abständen, öfter als Gesunde, eine Toilette aufsuchen muss.
 
Der Vertreter der DRV brachte die persönliche Verteilzeit als neues Argument vor, nachdem der Weg über die Heimarbeit gescheitert war.
 

Persönliche Verteilzeiten werden hier überschritten

Die Sozialrichter werteten die Aussagen des Gutachters und die persönliche Erklärung vom Kläger, und kamen zu dem Ergebnis, dass Neumann in unregelmäßigen Abständen die Toilette aufsuchen muss. Aufgrund der notwendigen sich anschließenden Hygienemaßnahmen dauern diese Toilettengänge nach ärztlicher Einschätzung mindestens 15 Minuten. Es sei damit zu rechnen, dass mehrere Toilettengänge pro Arbeitsschicht anfallen. Die persönliche verteilte Zeit reiche dafür nicht aus.
 

Mehrfache Pausen von mindestens 15 Minuten pro Schicht sind betriebsunüblich

Das Gericht führte aus, dass mit den erforderlichen Pausen keine Tätigkeit unter betriebsüblichen Bedingungen mehr möglich sei. Die gewisse Besserung führe nicht zum Wiederaufleben der Erwerbsfähigkeit. Neumann könne nach wie vor keine Tätigkeit unter betriebsüblichen Bedingungen verrichten.
 
Außerdem sei zu berücksichtigen, dass er bereits fast acht Jahre verrentet sei und sich im letzten Jahr im Auftrag der Rentenversicherung beim zuständigen Integrationsfachdienst vorgestellt hat. Dort hat man eine Vermittlung für nicht möglich angesehen.
 

Rentenversicherung erkennt Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer an

Das Gericht hat seine deutliche Auffassung schriftlich festgehalten. Sie ist im Sitzungsprotokoll nachzulesen. Der Vertreter der DRV gab nach und erkannte den Rentenanspruch an. Renten wegen Erwerbsminderung werden grundsätzlich zunächst nur auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt grundsätzlich für längstens drei Jahre. Sie kann dann verlängert werden bis maximal bis zu einer Gesamtdauer von neun Jahren (§ 102 Absatz 2 SGB VI). Zum Gerichtstermin war die mögliche Befristung von neun Jahren abgelaufen. Die DRV musste deshalb nicht nur eine weitere Verlängerung der Rente anbieten, sondern eine Dauerrente. Auch der persönliche Eindruck, den das Gericht von Neumann gewonnen hatte, sprach für eine Dauerrente.

LINKS:

Sozialgericht Aachen, S 8 R 462/18, Protokoll vom 22.5.2019


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Das sagen wir dazu:

Es wird manchmal sehr persönlich beim Sozialgericht. Nicht nur gegenüber Gutachtern, also Medizinern, müssen die Betroffenen Detailschilderungen ihrer Leiden liefern. Da ist Scham wirklich nicht angebracht. Nur, wenn klar ausgedrückt wird, wie die Beeinträchtigung aussieht, können sich alle ein realistisches Bild machen. Auch Nachfragen sind erlaubt. Neumann gab auf eine solche nämlich an, dass er bei geplanten Terminen schon den Nachmittag vorher auf Nahrungsaufnahme verzichte, damit er dann weniger Schübe habe.

In anderen Verfahren erleben wir auch Übertreibungen, die sich mangels entsprechender Schauspielleistung aber oft selbst enttarnen. Das muss wirklich nicht sein. Aber zu sagen, wie es ist, kann den Ausschlag auch in einem von ärztlichen Gutachten geprägten Verfahren geben.

Rechtliche Grundlagen

§ 43 SGB VI

§ 43 Rente wegen Erwerbsminderung
(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1.
teilweise erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1.
voll erwerbsgemindert sind,
2.
in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.
vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind auch

1.
Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2.
Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

(3) Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.