Drei Jahre lang musste der DGB Rechtsschutz Bielefeld vor und mit dem Sozialgericht Detmold um eine Rente wegen Erwerbsminderung streiten. Copyright by Adobe Stock/Alexander Borisenko
Drei Jahre lang musste der DGB Rechtsschutz Bielefeld vor und mit dem Sozialgericht Detmold um eine Rente wegen Erwerbsminderung streiten. Copyright by Adobe Stock/Alexander Borisenko

Martin S. ist 43 Jahre alt, als er 2011 während der Tätigkeit als Gebäudereiniger schwer stürzt. Es folgen mehrere Operationen. Als Folge des beiderseitigen Trümmerbruchs im Fersenbein verbleibt eine Versteifung der unteren Sprunggelenke und eine chronische Schmerzstörung. Es dauert lange, bis er halbwegs wieder gehen kann. Arbeitsfähig wird er nicht mehr, bezieht eine befristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Eine Schwerbehinderung wird anerkannt und eine gesetzliche Betreuung gestellt.
 

Suchtproblematik und Depressionen

 
Schon vor dem Unfall hatte Martin S. mit psychischen Erkrankungen und Abhängigkeiten zu kämpfen. Er wird regelmäßig in einer psychiatrischen Fachklinik behandelt. Die Schmerzen und der Verlust seiner Arbeit verstärken die Symptomatik.
 
2016 bewilligt die Deutsche Rentenversicherung (DRV) eine Maßnahme in einer Werkstatt für Behinderte Menschen. Martin S. stößt auch hier an die Grenzen seiner seelischen und körperlichen Belastbarkeit. Es tut ihm aber gut, eine Aufgabe zu haben und eingebunden zu sein.
 

Erwerbsunfähigkeit verschwindet über Nacht

 
Seine Welt gerät aus den Fugen, als die DRV die Rente wegen voller Erwerbsminderung über Ende März 2018 hinaus nicht mehr weiterzahlt. Er sei jetzt in der Lage, mehr als 6 Stunden täglich zu arbeiten, heißt es Anfang April 2018 in einem Bescheid.
 
Da er angeblich auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten kann, beendet die DRV später auch die Maßnahme in der Werkstatt. Die dringenden Appelle, die Maßnahme nicht abzubrechen, da die Ärzte mit einer Verschlechterung des psychischen Zustandes rechnen, verhallen ungehört.
 

Rechtsstreit beim Sozialgericht Detmold beginnt im August 2018

 
Die DRV ändert ihre Meinung im Widerspruchsverfahren nicht. So kommt es zur Klage beim Sozialgericht mit einer vermeintlich guten Ausgangslage für den Kläger. Denn die DRV, die die Rente nicht weiter gewährt, müsste darlegen, dass sich der gesundheitliche Zustand des Klägers gebessert hat. Die medizinischen Unterlagen aber sprechen eine andere Sprache.
Die psychiatrische Fachklinik schildert eine deutliche Einschränkung der körperlichen und psychischen Belastbarkeit. Außerdem stößt Martin S.  - obwohl die Anforderungen nicht dem ersten Arbeitsmarkt entsprechen  - bei der Arbeit in der Werkstatt oft an seine Grenzen. Die Caritas berichtet, dass während der Maßnahme in der Werkstatt stündlich Pausen von 10-15 Minuten erforderlich gewesen seien. In schlechten Phasen habe die Betreuerin engen Kontakt mit ihm halten müssen.
 
Nun könnte man meinen, die Sache sei klar. Doch bis zum Ziel ist es ein weiter Weg.
 

Im ersten halben Jahr passiert nichts

 
Weitere gesundheitliche Einbrüche mit stationären Behandlungen in der psychiatrischen Fachklinik zeigen die negative Tendenz im Zustand des Klägers auf. Auch eine multimodale stationäre Schmerztherapie im Frühjahr 2019 bringt keine Besserung.
 
Bis März 2019 hat das Gericht lediglich ärztliche Befundberichte eingeholt. Weiter ist das gerichtliche Verfahren noch nicht fortgeschritten. Die Berichte bestätigen die gravierenden Krankheiten und Leistungseinschränkungen.
 
Weitere ärztliche Behandlungsberichte belegen durchgehend: Der Zustand verschlechtert sich, da die Struktur durch die Beschäftigung in der Werkstatt für Behinderte Menschen fehlt.
 
Martin S. zweifelt schon im Frühjahr 2019 daran, genug Kraft für diesen Rechtsstreit zu haben.
 

Kläger und Rentenversicherung fordern eine Begutachtung

 
Im Mai 2019 regt die DRV an, den medizinischen Sachverhalt durch ein Sachverständigengutachten aufzuklären. Es sind bereits neun Monate vergangen, seit Martin S. geklagt hat. Einem normalen Fortgang des Verfahrens steht nichts im Wege. Doch was passiert? Erst einmal ganz lange gar nichts.
 
Ein gutes halbes Jahr später meldet sich die Vorsitzende Richterin. Der Kläger möge doch das Angebot der Rentenversicherung auf eine Reha-Maßnahme annehmen. Das Thema war nicht neu, doch die Antwort konnte keine andere sein: Eine Rehabilitation kam nicht in Frage, da Martin S. sich erneut im stationären Entzug befand. Es war zu einer Suchtverlagerung auf Alkohol gekommen. Zwischenzeitlich wurde die Behandlung aufgrund von Suizidgefahr in anderer Form fortgeführt.
 
Das Gericht ist über all das informiert. Und die Zeit vergeht.
 

Gericht regt das Ruhen des Verfahrens an

 
Im Frühjahr 2020 tritt die Richterin erneut in Erscheinung. Diesmal, um zu fragen, ob der Rechtsstreit wegen einer geplanten längeren Entwöhnungstherapie ruhen soll.
 
Nein, das soll er nicht! Der Rechtsstreit kann und muss ohne Unterbrechung weitergeführt werden. Die Belastung ist für den Kläger kaum noch zu ertragen und die durchschnittliche Verfahrensdauer ohne nennenswerten Fortgang bereits überschritten.
Die Situation des Klägers verschlechtert sich immer weiter. Deshalb wendet sich sogar die gesetzliche Betreuerin an das Gericht.  Sie betont, dass auf jeden Fall eine Begutachtung möglich und stark erhofft werde.
 

Richterin agiert ohne Kläger und Beklagte zu informieren

 
Das Gericht gibt dann tatsächlich ein Sachverständigengutachten in Auftrag. Doch zu der psychiatrischen Begutachtung kommt es nicht wie geplant. Sie wird kurz vor dem Termin abgesagt.
Was war passiert? Das Sozialgericht hatte der Ärztin mitgeteilt, dass sie den Kläger erst nach Beendigung der Entwöhnungstherapie begutachten soll.
 
Auf diesem Wege umschifft die Richterin, dass weder Kläger noch Beklagte ein Ruhen des Verfahrens beantragen wollten. Aller Unmut über diese Taktik prallt ebenso an ihr ab wie die Selbstmordgefahr, die beim Kläger besteht.  
 

Zwei Jahre vergehen bis zur Begutachtung

 
Martin S. bricht zusammen, konsumiert Amphetamine, THC und Alkohol. Die Entwöhnungstherapie verzögert sich wegen einer Entgiftungsbehandlung.
 
Im September 2020 findet dann endlich die Begutachtung durch die Fachärztin statt. Eine große Erleichterung für den Kläger. Zwei Jahre hatte er darauf gewartet.
 
Das Jahr 2021 bricht an, und es wird Februar, bis das Sachverständigengutachten vorliegt. Das Ergebnis ist klar: Die Leistungsfähigkeit des Klägers liegt unter drei Stunden täglich. Damit gilt er als voll erwerbsgemindert. Die Gutachterin bestätigt zudem, dass sich der Zustand des Klägers seit Beendigung der Erwerbsunfähigkeitsrente nicht verbessert, sondern verschlechtert hat.
 

Rechtsstreit endet durch Anerkenntnis der Rentenversicherung

 
Ein wenig muss Martin S. nun noch auf die Reaktion der Rentenversicherung warten. Anfang April kommt das erhoffte Schreiben: Sein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung wird anerkannt. Die Rente wird nun rückwirkend ab März 2018 geleistet und das unbefristet.
 
Und die Richterin muss nicht einmal ein Urteil schreiben. Halleluja!
In der freien Wirtschaft würden wir von Arbeitsverweigerung sprechen. Doch in der schönen Beamtenwelt wird es keine Konsequenzen geben. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde wurde angedacht und auch angedroht. Doch letztlich bestand die Gefahr, so noch mehr Zeit zu verlieren.
 
Zum Abschluss noch einen erneuten Blick auf die Statistik:
Im Kalenderjahr 2019 gingen beim Sozialgericht Detmold 8220 Klagen und Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz ein und damit 263 weniger als im Vorjahr. Den Arbeitsergebnissen des Sozialgerichts Detmold 2019 ist weiter zu entnehmen, dass das bereits sehr hohe Erledigungsniveau weiter gesteigert werden konnte. Dieses Ergebnis ist sicher den anderen 29 Kammern des Gerichts zu verdanken und nicht der Kammer, die für das Verfahren von Martin S. zuständig war.
 

Ohne Worte!

 
Als Ende für diese Geschichte wünschen wir uns einen Kläger, der nach so langer Zeit endlich seinen Rentenbescheid in den Händen hält. Doch es ist Anfang Juni und die sieben Wochen seit der Rentenanspruch anerkannt wurde, haben dafür nicht gereicht. Die DRV muss noch ein paar Fragen klären, bevor der Bescheid erlassen wird. Zunächst, ob Martin S. während des Rechtsstreits Erwerbseinkommen erzielt hat. Selbstverständlich ist das nicht der Fall.
Sodann ging es der DRV darum, eine vermeintliche Lücke bei den Versicherungszeiten zu klären. In einem Telefonat stellt sich heraus: Die drei Jahre, die die DRV nicht zuordnen konnte, sind die drei Jahre, in denen Martin S. bereits eine Erwerbsminderungsrente bezogen hatte.