Rentenversicherung: Keine Erwerbsminderungsrente bei Abschaffung des eigenen Pkw © Adobe Stock: Ralf Geithe
Rentenversicherung: Keine Erwerbsminderungsrente bei Abschaffung des eigenen Pkw © Adobe Stock: Ralf Geithe

Nach § 43 Abs. 2 SGB VI hat ein Versicherter Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente wenn er nicht mehr wegefähig ist. Von einer nicht mehr gegebenen Wegefähigkeit ist dann auszugehen, wenn der Versicherte außerstande ist, viermal täglich Wegstrecken von über 500 Metern innerhalb von 20 Minuten zu bewältigen und nicht in der Lage ist zweimal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln in der Hauptverkehrszeit zu fahren.

 

Wegeunfähige Klägerin beantragt Erwerbsminderungsrente

 

Die 1964 geborene Klägerin absolvierte eine Ausbildung zur staatlich geprüften Wirtschafterin, die sie im Juni 1983 abschloss. Zuletzt war sie seit 2006 als Großküchenkraft in einer Jugendherberge im Schichtdienst versicherungspflichtig beschäftigt. Um ihrer Tätigkeit nachkommen zu können nutzte sie einen auf ihren Namen zugelassenen Opel Astra.

Vergeblich begehrte die wegeunfähige Klägerin von dem beklagten Rentenversicherungsträger die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Nach erfolglosen Widerspruchsverfahren erhob sie Klage beim Sozialgericht.

Sie verfügte über eine Fahrerlaubnis und einen Pkw, den sie während des Klageverfahrens zum 11. September 2019 abmeldete.

Mit Urteil vom 28. Oktober 2020 gab das Sozialgericht (SG) der Klage statt, woraufhin die beklagte Rentenversicherung Berufung beim Landesozialgericht Nordrhein-Westfalen einlegte.

 

LSG: Pkw-Abschaffung bedarf keiner Begründung

 

Das Berufungsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung und wies die Berufung der Beklagten zurück.

Das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität sei Teil des versicherten Risikos, so das LSG in seiner Begründung. Dieses habe sich in dem Zeitpunkt verwirklicht, in dem die Klägerin die gesundheitlichen (Geh-)Einschränkungen nicht mehr durch den jederzeitigen, tatsächlichen Zugriff auf einen ihr zur Verfügung stehenden Pkw zumutbar habe beseitigen können. Unerheblich sei es, so das Gericht, ob die Abschaffung auf einer (subjektiv empfundenen) Fahrunsicherheit, technischen Umständen oder wirtschaftlichen Erwägungen beruhe. Ein Ausschluss des Anspruchs lasse sich nicht begründen. Ein solcher stehe nur solchen Personen gemäß § 103 SGB VI nicht zu, die die für die Rentenleistung erforderliche gesundheitliche Beeinträchtigung absichtlich herbeigeführt hätten.

 

Keine rentenschädliche Herbeiführung des Versicherungsfalles

 

Die Klägerin habe ihre Gesundheitsbeeinträchtigungen aber nicht vorsätzlich herbeigeführt. Ihre weitgehend eingeschränkte Gehfähigkeit habe unverschuldet und unabhängig von der Abschaffung des Pkw bestanden. Diese sei keine rentenschädliche Herbeiführung des Versicherungsfalles, weil Versicherte auf diese Weise nicht die dafür relevante gesundheitliche Einschränkung absichtlich herbeiführten. Es bestehe für sie auch keine Obliegenheit, den Pkw zu behalten, um das versicherte Risiko nicht eintreten zu lassen.

 

Revision nicht zugelassen

 

LSG: Voraussetzungen nach § 160 Abs. 2 SGG für die Zulassung der Revision zum Bundessozialgerichtlage liegen nicht vor.

 

Beklagte legt Nichtzulassungsbeschwerde ein

 

Die beklagte Rentenversicherung hat ihre Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgenommen.

Das Urteil ist rechtskräftig.

 

Hier geht es zum Urteil des LSG NRW:


 

 

Das sagen wir dazu:

Orientierungssatz zur Entscheidung des LSG NRW

 

Zum Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei Wegeunfähigkeit

Bei einem vollschichtigen Leistungsvermögen ist der Arbeitsmarkt wegen relevanter gesundheitlicher Mobilitätseinschränkungen nur dann als nicht verschlossen anzusehen, wenn die gesundheitlich mobilitätseingeschränkte versicherte Person ein ihr werktäglich zur Verfügung stehendes Kraftfahrzeug jederzeit tatsächlich nutzen kann. Die erforderliche "jederzeitige" Verfügbarkeit ist typisierend im Rahmen einer lebensnahen Betrachtung dahingehend zu verstehen, dass das Fahrzeug werktäglich ohne größere zeitliche Ausnahmen und ohne werktägliche innerfamiliäre Absprachen zur Verfügung stehen muss:

Die bloße Abschaffung eines Personenkraftwagens ist keine rentenschädliche Herbeiführung des Versicherungsfalles iS. des § 103 SGB 6, weil der Versicherte auf diese Weise nicht die dafür relevante gesundheitliche Einschränkung absichtlich herbeiführt. 

Auch ein Versicherter, der über Vermögen, nicht aber über einen Personenkraftwagen verfügt, darf nicht darauf verwiesen werden, dass er mit seinen finanziellen Ressourcen zum Erwerb eines Personenkraftwagens in der Lage sei.

 

 

Hier finden Sie das vollständige Urteil des LSG NRW: