Die Rechtsprechung macht hier keine Ausnahme für Jugendliche
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Neumanns Nichte Tanja leidet darunter, dass sich bei ihr schon in der Pubertät eine Brustasymmetrie gebildet hat. Sie hat bei der Krankenkasse einen Antrag für eine einseitige Mammaaufbauplastik gestellt. Die Krankenkasse lehnte ab.

Tanja ließ in Folge den Eingriff durchführen und stellte dann einen Überprüfungsantrag und verlangte Kostenerstattung.

 

Der Krankheitsbegriff

 

Eine Definition findet sich in § 27 Abs.1 SGB V. Danach haben Versicherte einen Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhindern oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.

 

Unregelmäßigkeit als Krankheit?

 

Auch Tanja weiß, dass nicht jede körperliche Unregelmäßigkeit als Krankheit angesehen wird. Dafür ist grundsätzlich erforderlich, dass eine Person in den Körperfunktionen beeinträchtigt ist. Das ist sie dadurch, dass sich die eine Brust nicht entwickelt hat, jedoch nicht. Eine weitere Begründungsmöglichkeit besteht, wenn die Abweichung von der Normalität entstellend wirkt. Tanja fühlt sich entstellt. Gerade als Jugendliche in der Entwicklung, auch der sexuellen, fühlt sie sich zudem psychisch sehr belastet durch Blicke insbesondere der ihr nahestehenden Personen.

 

Sozialgericht gibt der Klage statt

 

Das Verfahren zog sich hin. Nach der Ablehnung hat Tanja erst den ablehnenden Bescheid angegriffen, und, als dies ergebnislos war, geklagt. Dann hat sie im Jahr 2014 das Verfahren zunächst beendet und im gleichen Jahr die gewünschte Behandlung auf eigene Kosten durchführen lassen.

Das Gesetz bietet mit § 44 SGB X die Möglichkeit die alte Entscheidung im Rahmen eines sog. Überprüfungsantrags erneut überprüfen zu lassen. Da sie die Kosten der OP von ca 4.000 € bezahlt hat, hat sie in Folge Kostenerstattung von der Krankenkasse gefordert. Die Kasse lehnte erneut ab, Tanja hat wiederum gegen die Ablehnung Widerspruch eingelegt und gegen den Widerspruchsbescheid Klage erhoben. Das Sozialgericht Hamburg hat mit Urteil vom 18.12.2017 (S 46 KR 1137/16) der Klage stattgegeben. Das Gericht fand, Tanja sei durch die Anomalie entstellt.

 

Für Jugendliche schlimmer?

 

Das Sozialgericht war der Auffassung, es sei bei der jugendlichen Tanja nicht nur auf den bekleideten Zustand abzustellen. Obwohl Tanja durch spezielle Kleidung die Entstellung kaschieren konnte, sei zu berücksichtigen, dass die Neugier und abwertende Bewertung nahestehender Personen die psychische Gesundheit viel einschneidender beeinträchtige. Dies gelte insbesondere bei Jugendlichen. Diese seien im schulischen Bereich mit Sport- und Schwimmunterricht sowie Klassenfahrten konfrontiert und ihre Sexualität entwickle sich in diesem Alter. Das sei zu berücksichtigen. Die aus dieser Entstellung resultierende psychische Belastung sei nur durch die Mammaaufbauplastik zu behandeln.

 

Das Landessozialgericht sieht das anders

 

Das Landessozialgericht Hamburg hat der Berufung der Krankenkasse stattgegeben (Urteil vom 24.1.2019, Az L 1 KR 19/18). Tanja habe keinen Anspruch auf die Mammaaufbauplastik, weil sich der Größenunterschied der Brüste durch entsprechende Büstenhalter kaschieren ließe und in den meisten Lebenssituationen nicht zu bemerken sei. Auch, weil die Operation nicht das letzte Mittel sei, um die bestehende psychische Erkrankung zu behandeln, bestehe kein Anspruch auf Versorgung mit der Plastik.

 

BSG bestätigt das LSG

 

Tanja sieht weiter eine Verletzung von § 27 Abs. 1 SGB V. Sie meint, es sei bei der Beurteilung, ob eine Entstellung vorliege, auf den unbekleideten Körper abzustellen. Dies erst recht, weil sie zu dem Zeitpunkt noch Jugendliche war. Nach der damaligen Lage habe die Prognose gestellt werden müssen, ob sich ihr psychisches Leiden durch diesen Eingriff am gesunden Körper bessern würde. Das Bundessozialgericht hat mit seinem Urteil seine Rechtsprechung weiterentwickelt, insgesamt aber Tanja keine Kostenerstattung zugebilligt.

 

Weiterentwicklung der Rechtsprechung

 

Bisher war erforderlich, dass eine körperliche Auffälligkeit so ausgeprägt vorhanden sein musste, dass sie selbst bei flüchtiger Begegnung bemerkbar war. Konnte das z.B. durch eine vorhandene Prothese verdeckt werden, lag somit keine Entstellung vor. Nunmehr wird in engen Grenzen eine Entstellung auch an üblicherweise von Kleidung bedeckten Körperstellen angenommen. Die Auffälligkeit muss dazu besonders schwerwiegend sein und zudem abstoßend wirken. Das sei bei Tanja selbst im unbekleidetem Zustand nicht der Fall.

 

Keine Ausnahmen für Jugendliche

 

Das BSG räumt zwar ein, dass die Unsicherheit und Verletzlichkeit wegen einer anatomischen Abweichung bei Jugendlichen - insbesondere in der Phase der Pubertät - teilweise größer sei als im Erwachsenenalter. Hierbei handele es sich allerdings um einen rein subjektiven Aspekt, der auch von der jeweiligen Persönlichkeit und von der psychischen Konstitution der betroffenen Personen abhänge. Das Vorliegen einer Entstellung sei aber - ausgehend von dem objektiven Krankheitsbegriff - allein nach objektiven Maßstäben - zu beurteilen. Ein unterschiedlicher Maßstab der Entstellung bei Jugendlichen und Erwachsenen würde überdies zu erheblichen Abgrenzungsproblemen führen und wäre auch mit Blick auf das allgemeine Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 GG) nicht zu rechtfertigen. Somit wird hier keine Ausnahme für die jugendliche Tanja gemacht.

 

Bundessozialgericht, Urteil vom 10.3.2022 - B1 KR 3/21 R

Das sagen wir dazu:

Dem BSG ist zuzustimmen, dass auf eine objektive Betrachtung abzustellen ist. Jugendliche können durch den Sport- und Schwimmunterricht sowie Klassenfahrten nicht den Situationen ausweichen, wo sie sich z.B. zusammen umziehen müssen. Das hätte hier aber nur eine Rolle gespielt, wenn Tanjas körperliche Auffälligkeit als entstellend eingestuft worden wäre. Die gesetzliche Krankenkasse ist zuständig, wenn Entstellungen durch eine Behandlung behoben werden können. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob jemand sich entstellt fühlt.