Isabell arbeitet als Chemielaborantin. Sie ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Ihr Sohn ist seit der Geburt schwer krank und betreuungspflichtig. Er benötigt eine Stammzellen- bzw. Knochenmarkstransplantation. Trotz der Doppelbelastung durch Beruf und Kinderbetreuung sorgt Isabell sich rührend um ihr krankes Kind.

Die Doppelbelastung zeigt Folgen

Aber die Kinderbetreuung überfordert sie: Isabell wird selbst krank. Ihre behandelnde Neurologin bescheinigt ihr wegen einer psychischen Erkrankung Arbeitsunfähigkeit.

Isabells Krankenkasse prüft sehr genau, ob sie Krankengeld zahlen muss. Schließlich ist Isabell in der Lage, ihre eigenen Kinder weiter zu betreuen und sich vor allem auch sehr gut um das kranke Kind zu kümmern.

Die durch die Dauerfürsorge auftretende Dauerbelastung begründe keinen Krankenstand, sagt die Kasse. Isabell belege dadurch vielmehr ihre vorhandene Leistungsfähigkeit.

Die Krankenkasse bleibt stur

Auch der Hinweis von Isabell, dass ihre schwere psychische Krise durch die lebensbedrohliche Erkrankung des chronisch kranken Sohnes aufgetreten ist, bringt die Krankenkasse nicht zum Umdenken.

Isabell argumentiert weiter, dass sie ihrer Arbeit ruhigen Gewissens nachgehen könnte, wenn sie ihren Sohn in einer liebevollen Dauerpflege unterbringen könnte. Damit würde ihre Belastung reduziert.

Tatsächlich sei sie jedoch während der notwendigen Stammzellen- bzw. Knochenmarkstransplantation bei ihrem Sohn so stark psychischen belastet, dass sie nicht arbeiten könne.

Der MDK hält Isabell für leistungsfähig

Die Krankenkasse hat kein Einsehen. Isabell zieht vor Gericht. Unterstützt wird sie dabei von den Jurist*innen des DGB Rechtsschutz Büros aus Berlin. Auch vor dem Sozialgericht beharrt die Krankenkasse auf ihrer Rechtsmeinung.

Der medizinische Dienst könne nicht nachvollziehen, warum die Konzentrationsstörungen der Klägerin zwar im Beruf der Chemielaborantin, nicht aber in der Privat- und Pflegesituation von Isabell auftreten. Isabell sei für ihren Beruf leistungsfähig. Das bestätige Isabell dadurch, dass sie selbst angebe, ihrer Tätigkeit nachgehen zu können, wenn sie einen "liebevollen Dauerpflegeplatz" für ihren Sohn habe.

Die Kasse sieht keine gesetzliche Grundlage dafür, bei einer bestehenden Pflegesituation und der Fürsorge für Kinder Arbeitsunfähigkeit zu attestieren und Krankengeld zu zahlen. Isabell stünden insoweit andere Sozialleistungen zu.

Das Sozialgericht entscheidet anders

Diese rein formalistische Betrachtung, die die konkreten psychischen Belastung von Isabell völlig ignoriert, zeugt von wenig Empathie der Krankenkasse. So sieht es auch das Sozialgericht. Selbstverständlich könne Isabell Krankengeld beanspruchen.

Nach dem Gesetz besteht ein Anspruch auf Krankengeld, wenn eine Krankheit arbeitsunfähig macht. Eine Krankheit ist ein regelwidriger Zustand des Körpers, des Geistes oder der Seele, der behandlungsbedürftig ist und/oder zu Arbeitsunfähigkeit führt. Ein Anspruch auf Krankengeld besteht, wenn der Grund für die Arbeitsunfähigkeit eine Krankheit ist. Die Krankheit muss an der Arbeitsunfähigkeit wesentlich mitgewirkt haben.

Isabell ist psychisch krank

Isabell könne aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht mehr als Chemielaboranten arbeiten, sagt das Sozialgericht. Das belege der Befundbericht der behandelnden Neurologin. Ausweislich dieser Bescheinigung leide Isabell an Konzentrationsstörungen, neige zum Grübeln und, sei hoffnungslos. Sie habe ein Stimmungstief und leide an Schlafstörungen. Die Ärztin bescheinige darüber hinaus eine Anpassungsstörung.

Dieser Befund belege die Arbeitsunfähigkeit für die Tätigkeit als Chemielaboranten. Aus dem Attest ergebe sich, dass die psychische Krise durch die lebensbedrohliche Erkrankung des Sohnes ausgelöst worden sei. Aufgrund dieser psychischen Erkrankung bestehe Arbeitsunfähigkeit.

Die Belastung macht krank

Der Krankenkasse bescheinigt das Gericht eine völlig falsche Betrachtungsweise der Situation. Die Belastung durch die Kinderbetreuung sei nicht die Krankheit, die Isabell arbeitsunfähig mache. Die aufgrund dieser Belastung entstandenen psychischen Beeinträchtigungen führten vielmehr dazu, dass Isabell ihrem Beruf nicht mehr nachgehen könne.

Der Schluss, wonach die Dauerfürsorge und Dauerbelastung von Isabell als alleinerziehender Mutter zweier Kinder, von denen eines lebensbedrohlich erkrankt ist, deren Leistungsfähigkeit belege, sei rechtlich nicht haltbar. Zwar belaste die Fürsorge für ein krankes Kind. Der Grund für die Arbeitsunfähigkeit von Isabell sei jedoch ausschließlich deren akute psychische Erkrankung.

Elterliche Fürsorge gelingt auch bei Krankheit

Dass Isabell trotz der akuten psychischen Erkrankung für ihre Kinder gesorgt habe, belege nicht deren Arbeitsfähigkeit. Es entspreche einer lebensnahen Betrachtung, dass es trotz psychischer Erkrankung möglich sei, die Sorge für die eigenen Kinder aufrechtzuerhalten. Angesichts der psychischen Erkrankung von Isabell dürfte es aber auch bei der Kinderbetreuung Einschränkungen geben, die sie aufgrund der rein tatsächlichen Notwendigkeit nicht beachte.

Außerdem erfordere eine Tätigkeit als Chemielaboranten eine höhere Konzentration als die Fürsorge für die eigenen Kinder. Bei der elterlichen Fürsorge dürfe die Krankenkasse nicht von einem Maßstab ausgehen, der zum Beispiel bei der beruflichen Kinderbetreuung in Erziehungsberufen gefordert werde.

Die Pflege verursacht die Arbeitsunfähigkeit nicht

Eine Arbeitsunfähigkeit könne nicht erst dann angenommen werden, wenn eine psychische Erkrankung zu so starken Einschränkungen führe, dass die elterliche Fürsorge unmöglich sei. Dass Isabell vortrage, sie wäre eventuell arbeitsfähig geblieben, wenn die Beklagte ihr einen Dauerpflegeplatz für ihren Sohn angeboten hätte, ändere daran nichts. Entgegen der Ansicht der Kasse bestätige die Dauerpflege nicht, dass Isabell allein deshalb nicht arbeiten könne, weil sie sich um ihren Sohn sorge.

Die Klägerin meine damit, dass die psychische Beeinträchtigung ohne die Belastung durch die Sorge für ihren Sohn eventuell nicht aufgetreten wäre. Ob dies zutreffe, müsse das Gericht nicht prüfen. Isabell sei nachweislich psychisch erkrankt. Die Ursache der Erkrankung habe für die Bewertung der Arbeitsunfähigkeit keine Bedeutung.

Nun muss die Kasse doch zahlen.
Wir wünschen Isabell und auch ihrem Sohn alles Gute.

Das sagen wir dazu:

Die Krankenkasse hat in diesem Fall völlig ohne Gefühl entschieden. Rechtliche Prüfungen und Entscheidungen erfolgen nach Rechtsvorschriften und nicht nach Gefühlen, könnte man dem entgegen halten.Was Versicherungsträger oder möglicherweise nur einzelne Sachbearbeiter*innen der Versicherungsträger dabei oft vergessen, ist die Zielsetzung der deutschen Sozialversicherung.§ 1 SGB I sagt ausdrücklich, dass das Recht des Sozialgesetzbuchs Sozialleistungen zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit gestalten soll. Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern und auch besondere Belastungen des Lebens abzuwenden oder auszugleichen.In § 2 SGB I heißt es weiter, dass die sozialen Rechte aus dem Sozialgesetzbuch bei der Auslegung der Vorschriften und bei der Ausübung von Ermessen beachtet werden müssen. Dabei ist sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.Es reicht also keineswegs, Gesetze strikt anzuwenden. Das Individuum zählt. Für dessen soziale Sicherheit gewähren Sozialversicherungsträger Sozialleistungen. Bleibt zu hoffen, dass in Zeiten knapper Kassen dieses Ziel nicht untergeht.

Rechtliche Grundlagen

§ 44 SGB V; § 1 SGB I; § 2 SGB I

https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__44.html

https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__1.html

https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_1/__2.html