Eilverfahren im Sozialrecht sind eher selten, denn der Staat hat seinen Bürgern eine Existenzsicherung in Form finanzieller Mittel zur Verfügung zu stellen, die die Grundbedürfnisse erfüllt und das Überleben gewährleistet. Doch nicht immer geschieht das. Betroffenen ist die Einleitung eines Eilverfahrens möglich, wenn ohne die gerichtliche Entscheidung eine Notlage drohen würde. Vertreten vom DGB Rechtsschutz Berlin gelang es einer Betroffenen, vor dem Sozialgericht Berlin in einem Antragsverfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die Ausstattung ihres Rollstuhls mit einem Zusatzantrieb durchzusetzen.
Voraussetzung sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund
Voraussetzung für einen Antrag auf einstweilige Anordnung ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes. Die Antragstellerin musste dazu glaubhaft machen, dass ihr ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten auf eine gerichtliche Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für sie mit wesentlichen Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund).
Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, erläutert das Gericht. Es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit beziehungsweise Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt.
Ist also die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund.
In der Regel sei dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung dann stattzugeben, auch wenn nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden könne, so das Sozialgericht in seiner Entscheidung weiter. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich sei, müsse das Gericht im Wege einer Folgenabwägung entscheiden.
Die Antragstellerin hat Anordnungsanspruch und –grund glaubhaft gemacht
In einem Eilverfahren führt das Gericht eine summarische Prüfung durch. Dabei berücksichtigt es den Sachverhalt so, wie er sich mit einem Aufwand ermitteln lässt, der noch vertretbar erscheint.
Nach § 33 Abs. 1 SGB V haben Versicherte einen Anspruch auf die Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach dem Gesetz ausgeschlossen sind.
Der von der Antragstellerin begehrte Zusatzantrieb sei nicht vom Gesetz ausgeschlossen, so das Sozialgericht. Es handele sich um ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich.
Das Gericht zieht die Rechtsprechung des BSG zu Rate
Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei die Antragsgegnerin im Rahmen der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung zur Versorgung mit Hilfsmitteln verpflichtet, die die Auswirkung einer Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigen oder mindern und damit der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens und einem möglichst selbstbestimmten und selbstständigen Leben dienen. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen zählten unter anderem das Gehen und Stehen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums.
Es komme dabei entscheidend auf den Umfang der mit dem begehrten Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile im Hinblick auf das zu befriedigende Grundbedürfnis an. Es besteht demnach Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. Entscheidend ist der Umfang der mit dem Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile.
Menschen muss ermöglicht werden, so weit wie möglich ein selbständiges Leben zu führen. Nach der Rechtsprechung des BSG ist der Anspruch auf Versorgung mit einem Hilfsmittel nicht von vorne herein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung gerichtet.
Die Erschließung des Nahbereichs der Wohnung ist zu gewährleisten
Die Erschließung des Nahbereichs der Wohnung der Versicherten mit einem Hilfsmittel gehört zur Erschließung des körperlichen Freiraums. Maßgebend für den von der Gesetzlichen Krankenversicherung insoweit zu gewährleistenden Behinderungsausgleich ist grundsätzlich der Bewegungsradius, den ein nicht behinderter Mensch üblicherweise noch zu Fuß erreicht.
In den Nahbereich einbezogen ist dabei zumindest auch der Raum, in dem die üblichen Alltagsgeschäfte in erforderlichem Umfang erledigt werden. Hierzu gehören die allgemeinen Versorgungswege wie Einkauf, Post und Bank ebenso wie die gesundheitserhaltenden Wege, also bspw. das Aufsuchen von Ärzten, Therapeuten, oder Apotheken. Das gilt ebenso auch für elementare Freizeitwege. So sieht es das BSG in ständiger Rechtsprechung.
Der Begriff der Erschließung des Nahbereichs darf nicht eng gefasst werden
Im Rahmen des Behinderungsausgleichs sei zu prüfen, ob der Nahbereich ohne ein Hilfsmittel nicht in zumutbarer und angemessener Weise erschlossen werden könne. Das gelte insbesondere für die Frage, durch welche Ausführung der Leistung sich die Erschließung des Nahbereichs für einen behinderten Menschen durch ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich verbessern, vereinfachen oder erleichtern lasse. Hinzu komme gegebenenfalls die Prüfung, ob eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig sei, so das Gericht.
Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf die Versorgung mit dem begehrten Zusatzbetrieb für ihren Rollstuhl glaubhaft gemacht. Die Ermittlungen des Gerichts hatten ergeben, dass die Klägerin auf einen Aktivrollstuhl angewiesen ist. Auf Grund eines ärztlich bestätigten chronischen Fatigue Syndroms muss sie Überanstrengungen vermeiden. Im Falle der Überanstrengung durch die Nutzung des Aktivrollstuhls ist der Zusatzantrieb am Rollstuhl notwendig.
Das brachte das Gericht zu der Überzeugung, dass der vom behandelnden Arzt verordnete Restkraftverstärker für den Rollstuhl der Antragstellerin zweckmäßig und wirtschaftlich ist.
Ein Elektrorollstuhl ist nicht vorrangig
Die Krankenkasse hatte im Verfahren darauf verwiesen, die Antragstellerin könne stattdessen einen Elektrorollstuhl nutzen. Das missachtet aus Sicht des Sozialgerichts jedoch das Wunsch- und Wahlrecht, dass Versicherten zusteht. Die Betroffene habe vorgebracht, dass die Bewegung im Elektrorollstuhl ausschließlich passiv erfolge. Die Fortbewegung im Aktivrollstuhl mit Antriebssystem lasse ihr demgegenüber die Möglichkeit, sich durch eigene Kraft fortzubewegen und nur im Fall der Überforderung den Antrieb zuzuschalten.
Das Abwarten auf eine Entscheidung in der Hauptsache sei der Antragstellerin nicht zuzumuten, so das Gericht. Das würde zu irreparablen Nachteilen führen. Wegen ihrer Erkrankung dürfe die Frau ihre Belastungsgrenze keinesfalls überschreiten und benötige deshalb den Zusatzantrieb.
Rechtliche Grundlagen
§ 33 Abs. 1 SGB V
(1) Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Die Hilfsmittel müssen mindestens die im Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 Absatz 2 festgelegten Anforderungen an die Qualität der Versorgung und der Produkte erfüllen, soweit sie im Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 Absatz 1 gelistet oder von den dort genannten Produktgruppen erfasst sind. Der Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich hängt bei stationärer Pflege nicht davon ab, in welchem Umfang eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft noch möglich ist; die Pflicht der stationären Pflegeeinrichtungen zur Vorhaltung von Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln, die für den üblichen Pflegebetrieb jeweils notwendig sind, bleibt hiervon unberührt. Für nicht durch Satz 1 ausgeschlossene Hilfsmittel bleibt § 92 Abs. 1 unberührt. Der Anspruch umfasst auch zusätzlich zur Bereitstellung des Hilfsmittels zu erbringende, notwendige Leistungen wie die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die Ausbildung in ihrem Gebrauch und, soweit zum Schutz der Versicherten vor unvertretbaren gesundheitlichen Risiken erforderlich, die nach dem Stand der Technik zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit und der technischen Sicherheit notwendigen Wartungen und technischen Kontrollen. Ein Anspruch besteht auch auf solche Hilfsmittel, die eine dritte Person durch einen Sicherheitsmechanismus vor Nadelstichverletzungen schützen, wenn der Versicherte selbst nicht zur Anwendung des Hilfsmittels in der Lage ist und es hierfür einer Tätigkeit der dritten Person bedarf, bei der durch mögliche Stichverletzungen eine Infektionsgefahr besteht oder angenommen werden kann. Zu diesen Tätigkeiten gehören insbesondere Blutentnahmen und Injektionen. Der Gemeinsame Bundesausschuss bestimmt in seiner Richtlinie nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6 bis zum 31. Januar 2020 die Tätigkeiten, bei denen eine erhöhte Infektionsgefährdung angenommen werden kann. Wählen Versicherte Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen. § 18 Absatz 6a des Elften Buches ist zu beachten.