Im Juni 2019 trat die Berlinerin ein Arbeitsverhältnis als Büroangestellte bei einem Reiseunternehmen an, musste die Arbeit jedoch bereits nach sechs Stunden abbrechen. Ihr Arzt bescheinigte ihr Arbeitsunfähigkeit. Die Arbeitsunfähigkeit dauerte bis zum Januar 2020 an. Schwere Depressionen waren deren Ursache.
Der Arbeitgeber hatte zwischenzeitlich gekündigt
Die Krankenkasse ließ die Frau im Juli 2019 von ihrem Medizinischen Dienst (MDK) untersuchen. Der Gutachter teilte dem behandelnden Arzt mit, er gehe davon aus, dass die Betroffene Ende Juli 2019 wieder arbeitsfähig sein werde. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Frau bereits eine psychotherapeutische Behandlung begonnen. Darauf wies der behandelnde Facharzt den MDK schriftlich hin. Er hielt seine Patientin weiter für arbeitsunfähig und begründete dies auch.
Die Krankenkasse lehnte die Gewährung von Krankengeld ab und blieb dabei auch im Widerspruchsverfahren, wo sie eine weitere Stellungnahme des MDK einholte. Eine Untersuchung der Betroffenen erfolgte nicht.
Der Rechtsstreit gelangte anschließend vor das Sozialgericht. Nach Einholung eines erneuten fachärztlichen Gutachtens stellte das Gericht fest, dass die Klägerin wie von ihrem Arzt bescheinigt, der Arbeit nicht nachgehen konnte.
Zunächst prüft das Gericht den Verweisungsberuf
Auszugehen sei von der Berufstätigkeit einer gelernten Buchhalterin. Die Klägerin sei bei dem Reisunternehmen zwar nicht als Buchhalterin, sondern als Büroangestellte beschäftigt gewesen. Das Arbeitsverhältnis habe der Arbeitgeber aber gekündigt, so dass nicht mehr auf diese konkrete Tätigkeit abgestellt werden dürfe. Das Gericht griff daher auf deren erlernten Beruf zurück. Als Buchhalterin sei die Klägerin wie von ihrem Arzt bescheinigt arbeitsunfähig gewesen.
Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eines Arztes stelle im sozialgerichtlichen Verfahren ein Beweismittel wie jedes andere dar. Ergebe sich daraus nicht uneingeschränkt, dass eine Arbeitsunfähigkeit fortbestehe, müssten für eine abschließende Beurteilung weitere vorliegende Unterlagen über den Gesundheitszustand herangezogen werden, so das Sozialgericht.
Entgegen der Annahme der Krankenkasse stehe der Annahme krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bei der Klägerin nicht bereits entgegen, dass der MDK die Klägerin in seinen beiden Stellungnahmen wieder für arbeitsfähig gehalten habe und dass diese Einschätzung gegenüber den Beteiligten verbindlich wäre.
Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses macht genaue Vorgaben
Zwar sei nach der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses der Krankenkassen über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung das Gutachten des MDK grundsätzlich verbindlich.
Es fehle hier jedoch an einem „Gutachten des Medizinischen Dienstes“. Als Gutachten wären die beiden eingeholten Stellungnahmen nur anzusehen, wenn sie den dem MDK für die Begutachtung von Arbeitsunfähigkeit auferlegten rechtlichen und fachlichen Anforderungen genügen würden. Das sei nicht der Fall.
Nach der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie setze die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit die ärztliche Befragung des*der Versicherten zur aktuell ausgeübten Tätigkeit und den damit verbundenen Anforderungen und Belastungen voraus; das Ergebnis der Befragung sei bei der Beurteilung von Grund und Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen.
Die Befragung muss genau und umfassend sein
Bei Arbeitslosen müsse sich die Befragung auch auf den zeitlichen Umfang beziehen, für den der*die Versicherte sich der Agentur für Arbeit zur Vermittlung zur Verfügung gestellt habe. Eine solche Befragung der Klägerin durch den MDK-Gutachter sei erkennbar nicht erfolgt. In der sozialmedizinischen Stellungnahme habe die Krankenkasse lediglich vorgemerkt, dass die Versicherte arbeitslos war, im Juni 2019 eine Tätigkeit aufgenommen und die AU am gleichen Tag begonnen habe und darüber hinaus das Arbeitsverhältnis bereits im Juni 2019 gekündigt worden sei.
Auch die Begutachtung im Widerspruchsverfahren entspreche nicht dem geltenden Recht. Der behandelnde Vertragsarzt könne unter Darlegung seiner Gründe bei der Kasse ein Zweitgutachten beantragen, wenn zwischen ihm und dem MDK Meinungsverschiedenheiten über eine Leistung bestehen, über die der MDK eine Stellungnahme abgegeben hat. Gleiches gelte bei Unstimmigkeiten über das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit oder über Maßnahmen zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.
Könne die Krankenkasse diese Meinungsverschiedenheiten nicht ausräumen, solle der MDK nach dem Vertragsrecht der Ersatzkassen mit einem Zweitgutachten eine*n Gutachter*in des Gebietes beauftragen, in das die verordnete Leistung oder die Behandlung der vorliegenden Erkrankung fällt.
Die Kasse ignorierte die Stellungnahme des behandelnden Arztes
Der behandelnde Arzt der Klägerin habe eine Begründung für die von ihm angenommene, fortbestehende Arbeitsunfähigkeit abgegeben. Meinungsverschiedenheiten seien auf Grund dessen nicht ausgeräumt gewesen, so dass die Kasse einen Zweitgutachter des betreffenden medizinischen Fachgebietes hätte beauftragen müssen. Dies sei unterblieben.
Schließlich entsprächen beide gutachterlichen Stellungnahmen des MDK nicht den Mindestanforderungen an ein Gutachten. Eine gutachterliche Stellungnahme müsse zumindest die wesentlichen Gründe für das Begutachtungsergebnis aufzeigen. So regele es § 275 Abs. 6 SGB V.
Dies sei bei beiden Stellungnahmen nicht der Fall gewesen. Die erste Stellungnahme des MDK habe keinerlei Begründung enthalten. Welches Gewicht die Kasse der Stellungnahme des behandelnden Arztes beigemessen habe, sei nicht erkennbar. Insbesondere bleibe rätselhaft, auf welcher Datenbasis die Entscheidung gefällt worden sei. Aus den vom Gericht beigezogenen Unterlagen ergäben sich schwerwiegende psychische Beeinträchtigungen der Klägerin, mit welchen der MDK sich nicht auseinandergesetzt habe.
Die Kasse hatte die Mängel im Widerspruchsverfahren nicht behoben
Die zweite Stellungnahme des MDK sei nämlich nicht besser. Sie enthalte einen nicht Sachverhalt, den sie nicht ausermittelt habe. Darüber hinaus hielt das Gericht eine persönliche Begutachtung der Klägerin für erforderlich.
Soweit die Stellungnahmen des MDK gleichwohl als Beweismittel in dem hiesigen Rechtstreit verwertet werden könnten, erwiesen sie sich für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin letztlich als inhaltlich völlig unergiebig.
Das Gericht stützte sich in seiner abschließenden Entscheidung auf die Angaben des behandelnden Arztes der Klägerin, der Facharzt für Psychotherapie ist und daher aus Sicht des Sozialgerichts die fachliche Kompetenz hat, Bewertungen zu der bei der Klägerin vorliegenden Depression abzugeben.
Die Klage war daher erfolgreich.
Rechtliche Grundlagen
§ 275 Abs. 6 SGB V
(6) Jede fallabschließende gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes ist in schriftlicher oder elektronischer Form zu verfassen und muss zumindest eine kurze Darlegung der Fragestellung und des Sachverhalts, das Ergebnis der Begutachtung und die wesentlichen Gründe für dieses Ergebnis umfassen.