Genehmigungsfiktion ist der rechtliche Fachbegriff, um den sich hier alles dreht. Das bedeutet kurz gesagt: Wenn die Krankenkasse über einen Antrag nicht innerhalb einer bestimmten Zeit entscheidet, gilt er als genehmigt.
Krankenkasse hat über Anträge zügig zu entscheiden
Die Vorschrift des § 13 Absatz 3a SGB V gibt es seit 2013 und dem Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes. Danach hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig zu entscheiden. Das heißt konkret: spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragstellung oder innerhalb von fünf Wochen, wenn eine gutachtliche Stellungnahme erforderlich ist. Kann die Krankenkasse die Frist nicht einhalten, ist der Antragsteller darüber unter Angabe von Gründen zu informieren.
Und wenn die Krankenkasse das nicht macht? Dies ist in Satz 6 der Vorschrift geregelt: Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt.
Darüber hinaus ist noch geregelt, dass die Krankenkasse zur Erstattung der Kosten verpflichtet ist, wenn sich der Versicherte nach Ablauf der Frist die Leistung selbst verschafft.
Zum Fall:
Im Oktober 2013 hatte die junge Klägerin, Mitglied bei der Gewerkschaft NGG, die Kostenübernahme für eine Brustverkleinerung bei ihrer Krankenkasse beantragt. Die Kasse - damals BKK vor Ort, heute heißt sie VIACTIV - reagierte daraufhin nur in der Weise, dass sie weitere medizinische Unterlagen anforderte. Nachdem sie diese erhalten hatte, informierte sie ihre Versicherte darüber, dass der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) die Unterlagen prüfe.
Krankenkasse lehnt den Antrag nach fünf Monaten ab
Den Antrag auf Übernahme der Kosten für eine Mammareduktionsplastik lehnte die BKK im März 2014 ab. Und damit zu spät.
Die junge Frau erhob Widerspruch gegen die Ablehnung. Nachdem sie den Eingriff in der Zwischenzeit auf eigene Kosten hat vornehmen lassen, verfolgte sie dann die Erstattung der Kosten mit Hilfe vom DGB Rechtsschutz beim Sozialgericht Detmold weiter.
Krankenkasse hätte Verspätung mitteilen und begründen müssen
Im gerichtlichen Verfahren hatte die Krankenkasse im Wesentlichen zwei Argumente. Zum einen sei ihr die verspätete Entscheidung nicht allein anzulasten, da die Klägerin Unterlagen erst spät abgegeben habe. Vor allem komme die Kostenerstattungsregelung nicht zum Tragen, da die begehrte Leistung medizinisch nicht notwendig sei.
Diesen Argumenten trat das Sozialgericht klar entgegen.
Die Kasse hätte es selbst in der Hand gehabt, die Genehmigungsfiktion abzuwenden. Sie hätte der Versicherten mitteilen können und eben auch müssen, dass und warum sie über den Antrag nicht innerhalb von fünf Wochen entscheiden wird. An dieser Verpflichtung ändere sich nichts durch das Anfordern von Informationen oder Unterlagen beim Versicherten.
Genehmigungsfiktion schließt alle Einwände gegen die Erforderlichkeit der Leistung aus
Das Wichtige an der Entscheidung des Sozialgerichts ist aber etwas anderes: Es kommt nicht darauf an, ob die beantragte Leistung medizinisch notwendig ist. Die Richter sind hier ganz deutlich: Durch die Fiktion der Genehmigung gelte die Leistung als erlassen und die Krankenkasse sei mit allen Einwendungen ausgeschlossen.
Die Rechtsprechung vertritt teilweise die Ansicht, dass die Genehmigungsfiktion nur bei Leistungen eintrete, die die Krankenkasse überhaupt erbringen müsse. Dem schlossen sich die Richter nicht an. Im Urteil wird dies ausführlich begründet und die Vorschrift des § 13 Abs. 3a SGB V ausgelegt. Das wichtigste Argument ist: Sinn der gesetzlichen Neuregelung war es, die Zügigkeit des Verwaltungsverfahrens zu verbessern. Dieses Ziel würde ins Leere laufen, wenn die Genehmigungsfiktion durch eine nachträgliche Prüfung der einzelnen Leistungsvoraussetzungen wieder erlöschen würde.
Krankenkasse nimmt Berufung beim Landessozialgericht zurück
Gegen die Entscheidung des Sozialgerichts Detmold hatte die Krankenkasse Berufung eingelegt. Diese hat sie im Termin beim Landessozialgericht in Essen zurückgenommen.
Die Richter hatten auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) verwiesen, das in der Zwischenzeit ergangen war. Danach bedeute der § 13 Abs. 3a SGB V eine starre Fristenregelung für die Kassen. Halte die Krankenkasse die Frist nicht ein und teile dies dem Antragsteller nicht rechtzeitig mit, gelte die beantragte Leistung ohne weitere Prüfung der Erforderlichkeit als genehmigt.
Die fiktive Genehmigung hat ihre Grenzen
Das BSG hat sich also der Meinung angeschlossen, wonach eine nachträgliche Prüfung der Erforderlichkeit einer Leistung, die Regelung des Patientenrechtegesetzes weitgehend leerlaufen lassen würde. Deshalb sei die Krankenkasse mit Einwendungen ausgeschlossen. Hier kommt allerdings ein Aber. In der Entscheidung findet sich eine zweifache Einschränkung: Erstens muss es um eine Leistung gehen, die der Versicherte für erforderlich halten darf. Zweitens gilt eine solche Leistung nur dann als genehmigt, wenn sie nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen liegt.
Vollkommen nachvollziehbar ist, dass nichts als genehmigt gelten soll, was offenkundig nicht erforderlich sei kann. Das Sozialgericht Detmold nennt Evidenzfälle wie einen Erholungsurlaub auf Mallorca oder die Versorgung mit Heroin. Was der Versicherte für erforderlich halten durfte, dürfte hingegen eher ein schwieriges Kriterium zur Abgrenzung sein. Wie so oft hat ein oberstes Gericht zwar für etwas Klarheit gesorgt, aber eben nicht für völlige.
Krankenkasse ließ sich auch bei der Entscheidung über den Widerspruch Zeit
Auch die Mühlen der Justiz mahlen bekanntlich langsam. Nachdem die Krankenkasse den Widerspruch zurückgewiesen hatte, dauerte es noch zwei Jahre und drei Monate bis zur endgültigen gerichtlichen Klärung. Das ist für ein Verfahren, das zwei Instanzen in der Sozialgerichtsbarkeit durchlaufen hat, nicht einmal viel. Beachtlich finden wir allerdings, dass die Krankenkasse sieben Monate brauchte, um über den Widerspruch zu entscheiden. Schließlich war bei der Entscheidung über den Antrag schon mit unangenehmen Folgen gebummelt worden, und auch ein Widerspruchsverfahren soll nach drei Monaten beendet sein.
Das Urteil des Sozialgerichts Detmold, das sich anschaulich mit der Genehmigungsfiktion auseinandersetzt, ist hier nachzulesen.
Hier ist das Urteil des Bundessozialgerichts im Volltext mit Leitsätzen nachzulesen (BSG, Urteil vom 08.03.2016, B 1 KR 25/15 R).
Unseren Artikel zu diesem BSG-Urteil gibt es hier:
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Rechtliche Grundlagen
Gesetzestext § 13 SGB V (auszugsweise)
(1) Die Krankenkasse darf anstelle der Sach- oder Dienstleistung (§ 2 Abs. 2) Kosten nur erstatten, soweit es dieses oder das Neunte Buch vorsieht.
(3) Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Die Kosten für selbstbeschaffte Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach dem Neunten Buch werden nach § 15 des Neunten Buches erstattet.
(3a) Die Krankenkasse hat über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (Medizinischer Dienst), eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Der Medizinische Dienst nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung. Wird ein im Bundesmantelvertrag für Zahnärzte vorgesehenes Gutachterverfahren durchgeführt, hat die Krankenkasse ab Antragseingang innerhalb von sechs Wochen zu entscheiden; der Gutachter nimmt innerhalb von vier Wochen Stellung. Kann die Krankenkasse Fristen nach Satz 1 oder Satz 4 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet. Die Krankenkasse berichtet dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen jährlich über die Anzahl der Fälle, in denen Fristen nicht eingehalten oder Kostenerstattungen vorgenommen wurden. Für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gelten die §§ 14, 15 des Neunten Buches zur Zuständigkeitsklärung und Erstattung selbst beschaffter Leistungen.