Versicherter, der versucht, in die Wohnung einzusteigen und dabei abstürzt, erleidet keinen Arbeitsunfall
Versicherter, der versucht, in die Wohnung einzusteigen und dabei abstürzt, erleidet keinen Arbeitsunfall

Zum Fall:

Geklagt hatte eine 43-Jährige, die in der Gastronomie beschäftigt war. Diese hatte am Vormittag bei der Arbeit bemerkt, dass sie ihren Schlüsselbund verloren hatte. Aufgefallen war ihr das deshalb, weil ihr aufgetragen wurde, mit ihrem Pkw Lebensmittel einzukaufen. Die Versicherte ließ sich von ihrem Arbeitgeber nach Hause fahren um den Ersatzschlüssel zu holen.

Zuvor hatte sie einen Schlüsseldienst zur Wohnung bestellt. Das Öffnen der Haustür war nicht ganz einfach; die Tür hätte aufgefräst werden müssen. Deshalb lehnte die Frau den Einsatz des Schlüsseldienstes ab und versuchte, selbst in die Wohnung zu kommen.
Bei dem Versuch durch ein angelehntes Fenster einzusteigen, stürzte sie ab.

Wegeunfall setzt Zusammenhang mit versicherter Tätigkeit voraus

Beschäftigte genießen den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch auf dem direkten Weg dorthin und zurück nach Hause. Ereignet sich auf diesem Weg ein Unfall, handelt es sich um einen sogenannten Wegeunfall. 

Ein solcher Wegeunfall setzt einen sachlichen Zusammenhang des unfallbringenden Weges mit der eigentlichen versicherten Tätigkeit voraus. Wird der Weg aus eigenwirtschaftlichen Motiven zurückgelegt, ist der Zusammenhang zu verneinen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist der berufliche Zusammenhang dann gegeben, wenn der Weg wesentlich zu dem Zweck zurückgelegt wird, den Ort der Tätigkeit oder nach deren Beendigung im typischen Fall die eigene Wohnung zu erreichen. Die darauf gerichtete Handlungstendenz des Versicherten muss durch die objektiven Umstände bestätigt werden.

Berufsgenossenschaft lehnt Antrag auf Entschädigung ab

Die zuständige Berufsgenossenschaft hatte den Antrag der Klägerin auf Entschädigungsleistungen wegen eines Arbeitsunfalles abgelehnt. Dies mit der Begründung, der Unfall habe nichts mit der beruflichen Tätigkeit zu tun.

Es folgte Widerspruch und sodann Klage, die das Sozialgericht Karlsruhe abwies.

Auch in der Berufung war die Verunfallte erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) Stuttgart wies die Berufung zurück.

Trotz betrieblichem Zusammenhang überwiegt das Einsteigen im privaten Interesse 

Das LSG sah einen betrieblichen Zusammenhang. Denn der Arbeitgeber hatte das Holen des Schlüsselbundes verlangt, um mit dem Auto der Klägerin für die Gaststätte Einkäufe zu tätigen. 

Aber: Die Art und Weise der geplanten Zurücklegung des Weges in die Wohnung, nämlich das Einsteigen durch das Schlafzimmerfenster, ließe eine privatwirtschaftliche Handlungstendenz von überragender Bedeutung erkennen, so das LSG. Es berücksichtigte dabei, dass Schäden an der Tür durch das Auffräsen vermieden werden sollten. Das habe im Vordergrund für das Einsteigen gestanden und nicht die betrieblichen Erfordernisse.

Damit habe sich kein betriebliches, sondern ein den privaten Umständen zurechenbares Risiko verwirklicht.

Anmerkung der Redaktion zum Wegeunfall:

So amüsant wie die Geschichte auf den ersten Blick klingen mag, so hat sie doch einen ernsten Hintergrund. Die Frau erlitt einen Lendenwirbelbruch mit derartigen Folgen, dass sie erwerbsgemindert ist und eine Rente von der Deutschen Rentenversicherung bekommt. 

Und so ungewöhnlich wie die Geschichte klingen mag, so zeigt sie doch auf, worauf es bei der Abgrenzung von einem Arbeitsunfall mit einem privaten Unfall ankommt. Nämlich darauf, welches Interesse – das betriebliche oder das private – im Vordergrund steht. Es wurde anerkannt, dass die Klägerin aus betrieblichen Gründen in die Wohnung wollte. Nur das sie es eben aus privaten Gründen nicht über den Schlüsseldienst, sondern das Einsteigen versuchte. 

Wir müssen davon ausgehen, dass die Sache ein anderes Ende genommen hätte, wenn die Frau gar keinen Schlüsseldienst bestellt, sondern direkt eingestiegen wäre. Denn dann hätte im Vordergrund gestanden, den Schlüssel zu holen, was betrieblich veranlasst war. Das private Interesse, nämlich das Vermeiden von Schäden an der Tür, hätte es dann gar nicht gegeben. Andererseits würde es uns auch nicht wundern, wenn eine solche Motivation, also das Vermeiden von Schäden oder auch einfach nur Kosten durch einen Schlüsseldienst, vom Gericht unterstellt worden wäre. So könnte ein privates Interesse konstruiert werden, auch wenn ein konkreter Ansatz wie das Bestellen und dann nicht in Anspruch nehmen des Schlüsseldienstes fehlt. 

Hier sind die Entscheidungsgründe des LSG abzuwarten. Bislang liegt nur die Pressemitteilung vor. 

Sicher wird es – auch unabhängig vom rechtlichen – ratsam sein, riskante Klettermanöver zu vermeiden, sondern in den sauren Apfel zu beißen und den Schlüsseldienst zu beauftragen. 

Lesen Sie zum Thema auch unsere Artikel:

Unfallversicherungsschutz auch auf dem Weg zurück zum Hoftor

Sturz im Hotelzimmer während Dienstreise ist kein Arbeitsunfall

Fallstricke bei der Unfallanzeige

Versicherungsschutz in der Mittagspause nur für Wege zur Nahrungsaufnahme

 

Im Praxistipp: § 8 Siebtes Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung -  Arbeitsunfall

Rechtliche Grundlagen

Siebtes Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung § 8 Arbeitsunfall

Siebtes Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung

§ 8 Arbeitsunfall

(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.

(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch
1. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit,
2. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um
a) Kinder von Versicherten (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder
b) mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen,
3. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, daß die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten oder deren Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden,
4. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben,
5. das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt.

(3) Als Gesundheitsschaden gilt auch die Beschädigung oder der Verlust eines Hilfsmittels.