Berufsgenossenschaft verweigert Anerkennung eines Wegeunfalls © Adobe Stock - Von Kzenon
Berufsgenossenschaft verweigert Anerkennung eines Wegeunfalls © Adobe Stock - Von Kzenon

Ein in Schwäbisch Gmünd ansässiges Unternehmen bot seinen Mitarbeitern "JobRäder" an, die sie für den Arbeitsweg und aber auch privat nutzen konnten. Ausschlaggebend für dieses Angebot des Arbeitgebers waren folgende Motive:

Die Situation auf dem Firmenparkplatz sollte entspannt, die Fitness der Belegschaft gefördert und das kommunale Programm "Fahrrad-Stadt Schwäbisch Gmünd" unterstützt werden. Die Räder wurden bei einem JobRad Unternehmen geleast.

Arbeitnehmer*innen sind zur Wartung ihres Rades verpflichtet

Arbeitnehmer*innen die das Angebot des Arbeitgebers annahmen, mussten sich dazu verpflichten, ihr Rad einmal im Jahr auf Kosten der JobRad-GmbH warten zu lassen. Der Arbeitgeber erinnerte die Mitarbeiter per Mail die Wartungen durchführen zu lassen. Er bestimmte auch die Fahrradwerkstatt und die Zahlmodalitäten.

Unfall bei Abholung des Rads von der Werkstatt

Eine Mitarbeiterin die ihr Rad am 21. März 2018 nach der Wartung in der Werkstatt abholte und nach Hause fuhr, kollidierte mit der unachtsam geöffneten Fahrertür eines Wagens.

Die Frau zog sich beim Sturz vom Rad erhebliche Verletzungen am Knie zu. Sie wurde mit dem Rettungswagen in eine Klinik verbracht und dort drei Tage stationär behandelt. Der D-Arzt-Bericht vom Unfalltage diagnostizierte eine Trümmerfraktur des Schienenbeins. In der Klinik wurde ein knöcherner Ausriss des vorderen Kreuzbandes (VKB) festgestellt.

Mehrmonatige unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit

In dem Zwischenbericht der Klinik vom 22. März 2018 ist vermerkt, das Abholen des „Dienstfahrrades“ sei im Rahmen der beruflichen Tätigkeit erfolgt. Nach der operativen Sanierung von Bruch und Bänderriss am 29. März 2018 entwickelte sich ein Kompartmentsyndrom im linken Unterschenkel, weswegen sich weitere Operationen anschlossen. Der weitere Heilungsverlauf gestaltete sich schwierig. Die Klägerin absolvierte ab Mitte Mai 2018 eine mehrfach verlängerte stationäre Rehabilitation. Ihre unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit dauerte mindestens bis November 2018.

Unfallanzeige bei der Berufsgenossenschaft

Am 3. April 2018 erstattete der Arbeitgeber Unfallanzeige bei der zuständigen Berufsgenossenschaft (BG). Darin waren die Arbeitszeiten am Unfalltag mit 09.49 Uhr bis 14.54 Uhr angegeben. Die Klägerin selbst gab in dem Unfallfragebogen am 17. April 2018 an, ihre Arbeitszeit habe gegen 15.00 Uhr geendet. Durch den Fußweg zu der Werkstatt habe sich ihr Arbeitsweg, den sie üblicherweise mit Jobrad oder Auto zurücklege, um etwa 1 km verlängert. Der Arbeitgeber teilte der Beklagten am 28. Juni 2018 ergänzend mit, er stelle die geleasten Fahrräder den Mitarbeitern ähnlich wie Dienstwagen zur Verfügung. Das Rad gehöre nicht der Klägerin und der Inspektionsbesuch sei auf Veranlassung des Arbeitgebers bzw. des Leasinggebers geschehen.

Berufsgenossenschaft verweigert Leistungen

Dem Antrag auf Leistungen von der gesetzlichen Unfallversicherung war kein Erfolg beschieden. Die BG begründete ihr Entscheidung damit, dass ein Arbeitsunfall nicht vorliege, da die Arbeitnehmerin nicht auf dem Arbeitsweg verunglückt sei.

Arbeitnehmerin erhebt Klage beim Sozialgericht

Nach erfolglosen Widerspruchsverfahren erhob die verunfallte Arbeitnehmerin Klage beim Sozialgericht (SG) Ulm, die mit Urteil vom 19. Januar 2021 abgewiesen wurde. Gegen die Entscheidung des SG legte sie Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg ein.

LSG hebt Ulmer SG-Urteil auf

Anders als die BG und die Ulmer Sozialrichter*innen sahen es die Mitglieder des 1. Senats des Stuttgarter LSG.

Auch wenn der Radunfall nicht auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz passiert sei, so das Berufungsgericht, handle es sich um einen Wegeunfall; mithin also um einen Arbeitsunfall. Dies ergebe sich daraus, dass die Fahrt nicht (nur) privat motiviert gewesen sei. Indem die Mitarbeiterin das Rad zur alljährlichen Inspektion brachte, habe sie eine vertragliche Verpflichtung des Arbeitgebers erfüllt. Somit stehe bei dieser Aktion der Betriebsbezug im Vordergrund und nicht das private Interesse der Arbeitnehmerin an einem funktionierenden Fahrrad.

Aufgrund des Mail-Rundschreibens, mit dem der Arbeitgeber die "JobRad"-Fahrer ermahnt habe, die Wartung nicht zu versäumen, stehe der Betriebsbezug fest. Zu deren Ablauf habe er überdies sehr konkrete Vorgaben formuliert. Aus alledem ergebe sich, dass die Fahrt von und zur Werkstatt ebenso unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehe wie der direkte Arbeitsweg mit dem "JobRad".

Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung - Revision zugelassen

Da die Entscheidung über die Klage von einer Rechtsfrage mit grundsätzlicher Bedeutung abhängt, ließ das LSG die Revision zum Bundessozialgericht zu. Zwar spielen viele Umstände des Einzelfalls eine Rolle, etwa die besondere Ausgestaltung des speziellen Jobrad-Modells und die E-Mail des Arbeitgebers vom 13. November 2017.

Aber relevant ist auch die Rechtsfrage, ob ein Arbeitgeber durch die Gestaltung von Neben- oder Zusatzabreden zu einem Arbeitsvertrag in einer Situation wie hier Unfallversicherungsschutz für bestimmte Verrichtungen des Beschäftigten bei der Erfüllung dieser Nebenpflichten begründen kann.

Das Revisionsgericht wird zu prüfen haben, ob der mittelbare Nutzen eines Arbeitgebers aus einem JobRad-Modell ausreicht, um die Erfüllung einer arbeitsvertragsbezogenen Pflicht zur jährlichen Inspektion des geleasten Fahrrads durch den Beschäftigten auf Kosten des Arbeitgebers bzw. der Leasinggeberin als betriebsbezogen bzw. arbeitgebernützig einzustufen.

Hier finden Sie das vollständige Urteil des LSG Baden-Württemberg:

Rechtliche Grundlagen

§ 160 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)

Sozialgerichtsgesetz (SGG)

§ 160



(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.



2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.

die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.