Schon früh morgens klagte die Zustellerin über Kopfschmerzen. © Adobe Stock: Alliance
Schon früh morgens klagte die Zustellerin über Kopfschmerzen. © Adobe Stock: Alliance

Die 40-jährige Klägerin arbeitete als Zustellerin bei einem Postzustellunternehmen. Im Dezember 2020 ging bei der Berufsgenossenschaft eine Unfallanzeige ein. Danach war die Klägerin im November 2020 nach dem Zustellen der Post in das

Zustellfahrzeug eingestiegen und am Ende der Straße über einen anderen Weg hinaus in einen Zaun gefahren.

 

Das Fahrzeug blieb stehen. Die Klägerin sei ohne Bewusstsein gewesen, hieß es in der Unfallanzeige und zunächst in ein Krankenhaus eingeliefert sowie anschließend in einer weiteren Klinik stationär behandelt worden.

 

Die Verletzte selbst konnte den Unfall nicht melden

 

Aus der Unfallanzeige ergab sich nicht, von wem die Angaben in er Unfallanzeige stammten. Augenzeuge war diese Person jedenfalls nicht. Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass die Verletzte schon morgens über Kopfschmerzen geklagt hatte. Im Aufnahmebefund des erstbehandelnden Krankenhauses hieß es, der Aufprall sei ein Bagatellunfall gewesen, der sich beim Rückwärtsfahren ereignet habe. Die schweren Unfallfolgen hätte der Aufprall auf den Airbag verursacht. Das später behandelnde Klinikum diagnostizierte ein Hirnbluten. Während einer Operation am Folgetag war ein Aneurysma geplatzt.

 

Die Beklagte lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab. Die Voraussetzungen für einen Arbeitsunfall seien nicht erfüllt, weil das Ereignis durch eine körperliche Ursache – nämlich das Hirnbluten -  und nicht durch eine äußere Einwirkung ausgelöst worden sei.

 

Daraufhin wandte sich die Familie der Klägerin an deren Gewerkschaft ver.di. Sie verwies darauf, dass sich die Verletzte noch auf der Intensivstation befinde und noch nicht in der Lage sei, nähere Angaben zum Unfallhergang zu machen. In der nachfolgenden Reha waren zwar Gespräche wieder möglich, an den Unfalltag hatte die Frau jedoch keinerlei Erinnerung mehr.

 

Der Klägerin ging es morgens schon nicht mehr gut

 

Die Ermittlungen im Verfahren ergaben, dass die Klägerin schon morgens mit blutunterlaufenen Augen am Arbeitsplatz erschienen war und über heftige Kopfschmerzen klagte. Ein Passant hatte gesehen, wie sie in ihrem Fahrzeug ohnmächtig wurde, auf die daneben stehenden Kisten fiel und dann in den Zaun fuhr.

 

Nach Einschätzung des behandelnden Neurologen war es durch das Anheben der Paketkiste zu einer Blutung gekommen, die ohne das anlagebedingte Aneurysma nicht eingetreten wäre. Der Verkehrsunfall war seiner Auffassung nach mit Wahrscheinlichkeit bereits aufgrund dieser Symptomatik verursacht worden. Er ging primär von einem Unfall aus innerer Ursache aus.

 

Die Klage sollte es richten

 

Gegen die nachfolgenden Bescheide, mit welchen die Berufsgenossenschaft die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ablehnte, beschritt der Gewerkschaftsjurist aus Schwerin den Rechtsweg und setzte sich beim Sozialgericht erfolgreich durch.

 

Das Sozialgericht zog mehrere Arztberichte bei und ordnete die Einholung eines fachärztlichen Gutachtens an.

 

Seinen rechtlichen Betrachtungen stellt das Gericht im Urteil den Unfallbegriff des Sozialgesetzbuchs VII voraus. Danach muss ein zeitlich begrenztes, plötzlich von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis während einer versicherten Tätigkeit vorliegen, das einen Gesundheitserstschaden objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat. Unerheblich ist, ob eine Erkrankung die den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht.

 

Eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit ist notwendig

 

Die Voraussetzungen der „versicherten Tätigkeit", des „plötzlichen äußeren Ereignisses" und eines „Gesundheitserstschadens" müssen im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vorliegen. Der Vollbeweis verlangt regelmäßig nicht letzte, niemals zu erlangende Gewissheit. Er setzt jedoch einen an Sicherheit oder Gewissheit grenzenden Grad der Wahrscheinlichkeit voraus, der ernste, vernünftige Zweifel zum Schweigen bringt. So hat es das Bundessozialgericht 2017 entschieden.

 

Im Fall der Klägerin stand für das Gericht fest, dass das Anheben einer etwa 30 kg schweren Postkiste durch die Klägerin als äußeres Ereignis wesentlich mitursächlich für den Eintritt des Aneurysmarisses mit der nachfolgenden Hirnblutung und den sich daraus ergebenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen war. Die Klägerin habe deshalb einen Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung erlitten.

 

Das Anheben einer Last kann zu einer Erhöhung des Blutdrucks führen

 

Die Klägerin habe eine schwere Kiste angehoben. Das ergebe sich aus den vorliegenden Zeugenaussagen. Das Ereignis sei damit ausreichend nachgewiesen.

Dass das Anheben einer schweren Last mit einem damit einhergehenden plötzlichen und starken Blutdruckanstieg ein äußeres Ereignis darstellen könne, sei auch durch die herrschende Rechtsprechung bereits bestätigt. Für das von außen auf den Körper einwirkende, zeitlich begrenzte Ereignis bedürfe es keines besonderen, ungewöhnlichen Geschehens.

 

Die äußere Einwirkung könne, müsse aber nicht sichtbar sein. Es reichten z.B. auch Einwirkungen durch radioaktive Strahlen, elektromagnetische Wellen, Sonneneinstrahlung etc. aus. Auch ein (Geschäfts-)Essen bei bekannter Nahrungsmittelunverträglichkeit könne nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein äußeres Ereignis sein. Es sei nicht zwingend ein Geschehen erforderlich, das mit den Augen zu sehen sei.

 

Was der Arbeitgeber anordnet, kann zum Arbeitsunfall führen

 

Ein*e Versicherte*r, der*die auf ausdrückliche oder stillschweigende Anordnung des Arbeitgebers eine derartige Kraftanstrengung wie die Klägerin unternehme und dabei einen Gesundheitsschaden erleide, stehe unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Das im Anheben der etwa 30 kg schweren Postkiste liegende äußere Ereignis sei zumindest wesentlich mitursächlich für den Aneurysmariss und die nachfolgende Hirnblutung gewesen. Wenn es neben der versicherten Ursache noch konkurrierende Ursachen gebe, z.B. besondere Krankheitsanlagen, so sei die versicherte Ursache wesentlich, solange die unversicherte Ursache nicht von überragender Bedeutung für den aufgetretenen Gesundheitsschaden war.

 

Eine Krankheitsanlage sei von überragender Bedeutung, wenn sie so stark oder so leicht ansprechbar war, dass sie den aufgetretenen Gesundheitsschaden durch jedes alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit hätte verursachen können.

 

Die Klägerin war bereits wegen Bluthochdrucks in Behandlung

 

Der Blutdruck der Klägerin sei zufriedenstellend eingestellt gewesen. Nach dem Gerichtgutachten habe bei der Klägerin auch schon ein Aneurysma vorgelegen. Dies sei jedoch so klein gewesen, dass es nicht dringend habe behandelt werden müssen.

 

Der versierte Prozessbevollmächtigte der Klägerin wies in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts hin, wonach der Versuch des Anhebens eines etwa 70 kg schweren Steines eines dort 55-jährigen Steinmetzes als ein adäquates, wesentlich mitursächliches äußeres Ereignis für den Eintritt einer Hirnblutung angesehen wurde. Das Gericht folgte dieser Argumentation.

 

Zwar habe bei der Klägerin die Möglichkeit einer spontanen Aneurysmaruptur bestanden. Jedoch müssten die medizinischen Überlegungen zu derartigen Rupturen in die rechtlichen Überlegungen mit einbezogen werden. Spreche die Art und Beschaffenheit eines Aneurysmas nach den wissenschaftlich bekannten Kriterien gegen eine Spontanruptur ungefähr zur selben Zeit und bei austauschbarer Gelegenheit, sei das Unfallereignis wesentliche Ursache für den aufgetretenen Körperschaden.

 

So war es bei der Klägerin

 

Die Krankheitsanlage bei der Klägerin sei unter Berücksichtigung der konkreten individuellen Umstände nicht so stark oder so leicht ansprechbar gewesen, dass der Aneurysmariss als Blutungsursache für die Hirnblutung durch jedes alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit eingetreten wäre. Die Belastung durch das Anheben der vollen und schweren Postkiste stelle unter Berücksichtigung der maßgeblichen individuellen Verhältnisse eine außergewöhnlich schwere Anstrengung dar. Die damit einhergehende körperliche Belastung geht über normale alltägliche Belastungen hinaus.

 

Die Beklagte sei nun verpflichtet, ihrer gesetzlichen Aufgabe gerecht zu werden, nach Eintritt von Arbeitsunfällen die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Versicherung mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen und sie durch Geldleistungen zu entschädigen. Sie solle daher im Interesse des Rehabilitationsergebnisses für die Klägerin ohne weitere zeitliche Verzögerung in die Leistungserbringung eintreten. Das gibt das Gericht der Beklagten auf dem Weg. Bleibt zu wünschen, dass das gelingt.

 

Das sagen wir dazu:

Gewerkschaftlichen Rechtsschutz durch die Jurist*innen der DGB Rechtsschutz GmbH erhalten Mitglieder der verschiedenen Einzelgewerkschaften unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Umfassende Erfahrung in allen Bereichen des Arbeits- und Sozialrechts sowie des Verwaltungsrechts führen zu einer kompetenten Rechtsvertretung – wie auch dieser Fall zeigt.

 

Praktiker wissen, dass im Fall einer Hirnblutung im Zusammenhang mit einem betrieblichen Geschehen die Anerkennung eines Arbeitsunfalls sehr selten ist. Meist verweisen Gerichte darauf, dass die Schädigung der Hirngefäße eine innere körperliche Ursache ist und darauf basierende Blutungen auch bei jeder anderen Gelegenheit hätten auftreten können.

 

Hier war es anders. Eine gute Kenntnis höchstrichterlicher Entscheidungen, eingebracht in ein zunächst vermeintlich eher aussichtloses Verfahren, veranlasste das Gericht zu weiterer Beweiserhebung und letztlich damit verbunden auch zu einem positiven Urteil.