Wie lang ein Arztbesuch dauert, können Patient*innen nicht selbst beeinflussen und dennoch resultieren daraus Konsequenzen für den Unfallversicherungsschutz. © Adobe Stock - Von DC Studio
Wie lang ein Arztbesuch dauert, können Patient*innen nicht selbst beeinflussen und dennoch resultieren daraus Konsequenzen für den Unfallversicherungsschutz. © Adobe Stock - Von DC Studio

Das Praktikum dauerte bereits über zwei Monate an, als der Kläger des Verfahrens vor dem Sozialgericht Oldenburg mit den Verantwortlichen aus dem Praktikumsbetrieb einen Arztbesuch absprach, den er morgens wahrnehmen wollte. Es war vereinbart, anschließend zum Praktikumsbetrieb zu fahren und mit der Arbeit zu beginnen.

 

Der Arzttermin fand wie vorgesehen statt. Auf dem Weg zur Praktikumsstelle erlitt der Kläger einen Verkehrsunfall mit schweren Verletzungen, die einen stationären Krankenhausaufenthalt erforderlich machten.

 

Die BG ging von einer „eigenwirtschaftlichen“ Tätigkeit aus

 

Die zuständige Berufsgenossenschaft lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab. Der Kläger sei zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls keiner versicherten Tätigkeit nachgegangen, sondern habe vielmehr eine sogenannte „eigenwirtschaftliche“ Tätigkeit verrichtet, die nicht auf berufliche Belange ausgerichtet gewesen sei. Er habe den Arztbesuch bereits im Voraus geplant. Bei dem Weg vom Arzt zum Ort der Tätigkeit habe es sich nicht um den direkten Weg, sondern vielmehr um einen „Abweg“ gehandelt. Dafür bestehe kein Versicherungsschutz.

 

Der Kläger hielt dem entgegen, die Verantwortlichen des Praktikumsbetriebes hätten vom Arztbesuch gewusst und es sei vereinbart gewesen, dass er nach dem Arztbesuch zurück zur Praktikumsstelle fahren solle. Die Rückfahrt sei damit Teil einer Vereinbarung mit dem Praktikumsbetrieb gewesen und stelle deshalb keine eigenwirtschaftliche Verrichtung dar. Auf den konkret ausgewählten Weg komme es nicht an. Das führe zu unbilligen Ergebnissen.

 

Das Sozialgericht sah das anders

 

Auf die Vereinbarung komme es nicht an.

 

Zu der berufsgenossenschaftlich versicherten Tätigkeit zähle nach dem Gesetz auch das Zurücklegen des mit dieser Tätigkeit zusammenhängenden Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit.

 

Der Kläger habe auch einen Unfall erlitten, als er in seinem Fahrzeug mit einem Linienbus zusammengestoßen sei. Ein Unfallschaden sei außerdem in Form vielfältiger Verletzungen aufgetreten. Grundsätzlich habe der Kläger auch als Teilnehmer einer berufsfördernden Leistung zur Rehabilitation dem Grunde nach unter dem Versicherungsschutz der Unfallversicherung gestanden.

 

Der Kläger habe jedoch keinen Weg zurückgelegt, der versichert gewesen sei.

 

Trotz Vereinbarung befand sich der Kläger auf keinem „Betriebsweg“

 

Der Arztbesuch des Klägers habe keinen sachlichen Zusammenhang zu der beruflichen Tätigkeit aufgewiesen.

 

Zur versicherten Tätigkeit eines*einer Beschäftigten zähle auch das Zurücklegen eines Betriebsweges. Betriebswege seien Wege, die in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt würden, Teil der versicherten Tätigkeit seien und damit der Betriebsarbeit gleichstünden. Sie würden in unmittelbarem Betriebsinteresse unternommen und unterschieden sich von Wegen nach und vom Ort der Tätigkeit dadurch, dass sie der versicherten Tätigkeit nicht lediglich vorausgingen oder sich ihr anschlössen.

 

Entscheidend für die Beurteilung, ob ein Weg im unmittelbaren Betriebsinteresse zurückgelegt werde und deswegen im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehe, sei die jeweilige objektive Handlungstendenz. Es komme dabei darauf an, ob die Absicht bestehe, eine dem Beschäftigungsunternehmen dienende Tätigkeit auszuüben. Die tatsächlichen Umstände des Einzelfalles müssten diese Handlungstendenz auch bestätigen.

 

Die Fahrt des Kläger erfolgte aus rein persönlichen Gründen

 

Der Kläger habe sich zum Zeitpunkt des Unfalls auf dem Weg von der Arztpraxis zu seiner Praktikumsstelle befunden. Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit seien grundsätzlich dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnen und daher unversichert. Dass die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit auch der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft und damit betrieblichen Belangen diene, trete gegenüber den persönlichen Belangen in den Hintergrund und sei nicht zu berücksichtigen.

 

Der Kläger habe mit dem Aufsuchen des Orthopäden keine Pflicht aus der berufsbildenden Maßnahme erfüllt.

 

Die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Wegeunfalls sind nicht erfüllt

 

Der Kläger habe auch keinen Unfall auf einem versicherten Weg zur Bildungsstätte erlitten. Er habe sich nämlich nicht auf dem direkten Weg von seiner Wohnung zum Praktikumsplatz befunden. Das Gesetz lege als End- oder Ausgangspunkt des Weges nur den Ort der versicherten Tätigkeit fest. Allerdings enthalte die Vorschrift die Formulierung "unmittelbar", was klarstelle, dass nur das Zurücklegen des direkten Weges nach und von der versicherten Tätigkeit unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehe.

 

Eine geringfügige Unterbrechung, die gleichsam "im Vorbeigehen" oder "ganz nebenher" erledigt werden könne, berühre den Versicherungsschutz nicht.

 

Bei einem sogenannten „Abweg“ werde jedoch die Zielrichtung zum Tätigkeits- oder Wohnort aufgegeben. Aus privaten Gründen erfolge in diesem Fall entweder eine Überschreitung des Ziels oder der Einschub eines zusätzlichen Wegestücks. Ein Abweg könne auch im Laufen oder Fahren in die Gegenrichtung zum üblichen Weg bestehen.

 

Die Dauer einer Unterbrechung ist maßgeblich

 

Komme es zu einer mehr als geringfügigen Unterbrechung des direkten Weges aus eigenwirtschaftlichen Gründen liege ein Abweg vor, der nicht unter Versicherungsschutz stehe. Der Versicherungsschutz ende, sobald der direkte Weg verlassen und der Abweg begonnen werde. Er bestehe erst dann erneut, wenn der Abweg beendet und der direkte Weg wieder aufgenommen worden sei.

 

Der Kläger habe anlässlich des Arztbesuches zum Unfallzeitpunkt die üblicherweise zurückzulegende Wegstrecke von seiner Wohnung zum Arbeitsort noch nicht wieder erreicht gehabt.  Er habe sich daher auf einem nicht versicherten Abweg befunden.

 

Der Ort der Arztpraxis könne unter gewissen Umständen als sogenannter „dritter Ort“ den Beginn des Arbeitsweges darstellen und damit an die Stelle der Wohnung treten. Um einen versicherten Weg mit einer unversicherten Unterbrechung an diesem dritten Ort abgrenzen zu können, habe das Bundessozialgericht aus Gründen der Rechtssicherheit die Vorgabe gemacht, dass der Aufenthalt an diesem dritten Ort wenigstens 2 Stunden dauern müsse.

 

Der Kläger habe sich jedoch keine 2 Stunden in der Arztpraxis aufgehalten, sodass diese keinen dritten Ort darstelle.

 

Eine Anerkennung des Verkehrsunfalls als Arbeitsunfall kam demzufolge nicht in Betracht.

 

Die Zwei-Stundengrenze ist fix

 

Gamze Wirth vom Rechtsschutzbüro Bremen vertrat den Kläger vor dem Sozialgericht und kommentiert die Entscheidung:

 

„Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg zeigt, wie hoch die Anforderungen

an die Anerkennung eines versicherten Wegeunfalls sind.

 

In dem von uns geführten Rechtsstreit ging es darum, ob der Weg von der

Arztpraxis zum Praktikumsplatz versichert ist.

 

Der Versichertenschutz besteht nach dem Urteil vom 07.07.2022 unter Bezugnahme

auf die bisherige Rechtsprechung nur dann, wenn der Versicherte sich zum Zeitpunkt

des Unfallereignisses auf dem direkten Weg von seiner Wohnung zu seinem Praktikumsplatz

befunden hat oder der Aufenthalt an dem dritten Ort, hier in der Arztpraxis, mindestens 2

Stunden gedauert hat.

 

Das bedeutet, dass die Dauer des Arztbesuches und eventuelle Umwege auf dem

Weg zur Praktikumsstätte, z.B. aufgrund von Verkehrsbeeinträchtigungen, Einfluss

darauf haben, ob ein Ereignis als versicherter Wegeunfall einzustufen ist.

 

Kritisch finde ich bei dieser Entscheidung, dass die Anerkennung teilweise von Faktoren

abhängt, auf die der Versicherte überhaupt keinen Einfluss hat. Dass ein Arztbesuch

mindestens zwei Stunden dauern muss, damit der Weg von der Praxis bis zum Praktikum

als versichert gilt, wirkt recht willkürlich, gehört jedoch zur Rechtsprechung des

Bundessozialgerichts.“

Hier geht es zum Urteil des Sozialgerichts Oldenburg.

 

 

Das sagen wir dazu:

Auf den ersten Blick ist dieser Fall relativ klar, zieht man die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Rate. Es gibt jedoch auch Grenzfälle, in welchen die Übergänge zwischen einem Betriebsweg und dem üblichen Weg von und zur Arbeit bzw. von einem dritten Ort zur Arbeit fließend sind. Begriffe wie die „Handlungstendenz“, der „Abweg“ oder etwa auch ein „Umweg“ erschließen sich juristischen Laien häufig nicht.

 

Da wird im Vorfeld viel falsch gemacht. Versicherte müssen bei Anzeigen über Arbeitsunfälle schon sehr konkrete Angaben zum Unfallhergang und der versicherten Tätigkeit machen. Berufsgenossenschaften legen diese Angaben häufig auf die Goldwaage und behaupten, erste Einlassungen bei der Antragstellung hätten ein höheres Gewicht als spätere Ausführungen, die unter Umständen mit juristischer Unterstützung gemacht werden.

 

Da von alldem oft auch viel Geld abhängt, bleibt die dringende Empfehlung, im Vorfeld etwaiger Ausführungen zu Unfallhergängen fachkundigen Rat, wie ihn die Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes und auf die DGB Rechtsschutz GmbH anbieten, in Anspruch zu nehmen. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft des DGB beinhaltet kostenlosen und kompetenten Rechtsschutz.

 

Rechtliche Grundlagen

§ 8 SGB VII

(1) (…)
(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch

1. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit,

2. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um
a)Kinder von Versicherten (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder
b)mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen,

2a. das Zurücklegen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort, an dem Kinder von Versicherten nach Nummer 2 Buchstabe a fremder Obhut anvertraut werden, wenn die versicherte Tätigkeit an dem Ort des gemeinsamen Haushalts ausgeübt wird,

3. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, dass die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten oder deren Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden,

4. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben,

5. das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt.

(3) (…)