Bei dem vom Rechtsschutzbüro Kaiserslautern vertretenen Kläger hatte die Berufsgenossenschaft eine beruflich bedingte Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit anerkannt. Sie stellte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 Prozent fest. Im Rahmen eines Verschlimmerungsantrages kam es zu einer Erhöhung der MdE auf 50 Prozent Der Kläger erhielt anschließend eine Unfallrente in dieser Höhe.

Ein weiterer Verschlimmerungsantrag mit Folgen

Fast zwei Jahre später hatten die Schmerzen zugenommen und der Kläger machte eine erneute Verschlimmerung seiner Berufskrankheit geltend. Das von der BG eingeholte Gutachten bestätigte die Wirbelsäulen-Beschwerden. Ein Teil der erhobenen Befunde gehöre aber nicht zum Erkrankungsbild der Berufskrankheit, meinte der Arzt.

Nach Einholung eines weiteren Gutachtens gelangte die BG zu der Annahme, dass nicht einmal die früher festgestellte MdE von 50 Prozent zutreffend war. Tatsächlich lag die MdE ihrer Ansicht nach bei nur 40 Prozent. Von der Anerkennung einer Verschlimmerung des Befundes war der Mann damit weit entfernt.

Die BG hatte die höhere Rente allerdings schon verbindlich festgestellt. Der Kläger wollte ursprünglich mehr, er wollte aber auch verhindern, dass diese verbindlich festgestellte Rente gekürzt würde.

Die BG will die Rentenhöhe deckeln

Die BG erteilte nach Anhörung des Klägers einen sogenannten Abschmelzungsbescheid. Dabei behält der Antragsteller seine Rente in der festgestellten Höhe, sie steigt jedoch so lange nicht, bis der korrekt berechnete Zahlungsbetrag erreicht ist. Alle Rentenerhöhungen unterhalb dieses Betrages werden also mit dem zu hohen Betrag verrechnet. Entscheidender Zeitpunkt der Überprüfung der neuen Rentenhöhe ist immer der Moment, in dem die Behörde über die Rentenhöhe eine neue Entscheidung treffen muss.

Das Gesetz fordert dafür einen Bewilligungsbescheid, der rechtswidrig ist und den*die Leistungsempfänger*in begünstigt. Die Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels muss verstrichen sein. Die Behörde darf den Bescheid dann nicht mehr zurücknehmen.

Der frühere Bescheid war rechtswidrig

Der Kläger hatte noch zum 1. Juli 2019 seine jährliche Rentenerhöhung erhalten. Drei Monate später erteilte die BG den Abschmelzungsbescheid. Mit ihm stellte sie die Rechtswidrigkeit des früheren Bescheides fest.

Die Folgen der Berufskrankheit, die Höhe der MdE und die damals gewährte Erhöhung der Rente habe sie zu Unrecht festgeschrieben. Die BG nahm die laufende Rentenzahlung von künftigen Erhöhungen aus, bis die dem Kläger rechtmäßig zustehenden Zahlungen den Betrag erreichten, der fälschlicherweise bislang gezahlt wurde.

Die Berufsgenossenschaft vertrat im anschließenden Klageverfahren die Auffassung, der Abschmelzungsbescheid könne jederzeit ergehen, auch bevor tatsächlich eine Änderung zugunsten des*der Betroffenen festzustellen sei.

Das Sozialgericht Mainz sah das anders. Nach dem Gesetz dürfe die Behörde einen Abschmelzungsbescheid nur erteilen, wenn eine Änderung zugunsten des Betroffenen schon eingetreten sei.

Eine Änderung zu Gunsten des Klägers lag nicht vor

Eine Verschlimmerung der Berufskrankheit habe der Gutachter nicht festgestellt. Eine Änderung der Verhältnisse zugunsten des Klägers sei daher nicht eingetreten.

Ein Abschmelzungsbescheid könne auch bei Rentenanpassungen ergehen. Diese erfolgten stets zum 1. Juli eines Jahres. Die Rente des Klägers sei letztmals zum 1. Juli 2019 angepasst worden. Die nächste Rentenanpassung würde demzufolge am 1. Juli 2020 erfolgen. Die Beklagte habe den Abschmelzungsbescheid aber schon vorher, nämlich im Oktober 2019 erteilt.

Zu diesem Zeitpunkt habe es noch keine Änderung zugunsten des Klägers gegeben. Die gesetzliche Bestimmung fordere diese Änderung aber ausdrücklich. Die Beklagte sei nicht berechtigt, in eine zuerkannte Rechtsposition einzugreifen, bevor die vom Gesetz geforderte Änderung eingetreten sei.

Das Gesetz setze darüber hinaus ausdrücklich eine "neu festzustellende Leistung" voraus. Auch diese komme nur nach einer Änderung der Verhältnisse in Betracht. Es bestehe kein Grund für den Unfallversicherungsträger, schon vor Eintritt einer Änderung zugunsten des Betroffenen durch einen Abschmelzungsbescheid in die gesicherte Rechtsposition des Klägers einzugreifen.

Die Sach- und Rechtslage kann sich immer noch einmal ändern

Die Vorschriften zum Abschmelzungsbescheid sollten verhindern, dass das "Unrecht weiter wächst". Die Rentenerhöhung des Klägers für 2020 sei im Oktober 2019 sei noch nicht fällig gewesen. Es bestehe immer die Möglichkeit, dass eine zunächst rechtswidrige Entscheidung bei Eintritt einer gesundheitlichen Verschlimmerung zumindest für die Zukunft richtig werde.

Das gebiete eine zeitnahe Prüfung vor Erlass des Abschmelzungsbescheides. Diese Möglichkeit nehme die BG dem Versicherten, wenn der Bescheid mehrere Monate vor Eintritt einer Änderung sozusagen "auf Vorrat" ergehe.

Das Bundessozialgericht hält eine frühzeitige Entscheidung für zweckmäßig

Das Bundessozialgericht habe zwar schon einmal anders entscheiden. Es hielt die Erteilung eines Abschmelzungsbescheid auch schon vor Eintritt einer Änderung zugunsten des Betroffenen für möglich. Dem schloss sich das Sozialgericht Mainz nicht an.

Die Richter*innen aus Mainz halten eine frühzeitige Klärung des Sozialrechtsverhältnisses zwar im Einzelfall durchaus für zweckmäßig, die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage lasse ihrer Ansicht nach eine solche jedoch nicht zu.

Hier das Urteil des Sozialgericht Speyer vom 3. Februar 2021 – S 5 U 21/20 im Volltext

Lesen Sie hier, was bei einer rückwirkenden Aufhebung einer bestandskräftig bewilligten Sozialleistung zu beachten ist:

Das sagen wir dazu:

Das Sozialgericht Mainz bezieht sich in seiner Entscheidung auf ein Urteil des Bundessozialgerichts aus 2004. Der dortige Kläger hatte einen Bescheid bekommen, mit welchem die Rechtswidrigkeit eines früheren, bestandskräftigen Bescheides festgestellt wurde.

Im Urteil führt das BSG aus, der Beklagte habe die Rechtswidrigkeit des früheren, begünstigenden Verwaltungsaktes zu Recht festgestellt. Das nach dem Gesetz vorgesehene "Einfrieren" oder "Abschmelzen" von Leistungen setze stets eine Entscheidung über die Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides voraus. Diese Feststellung könne als eigenständige Regelung zur frühzeitigen Klärung des Sozialrechtsverhältnisses auch selbstständig und zeitlich vor dem Ausbruch des "Einfrierens" oder "Abschmelzens" getroffen werden.

Ausgehend hiervon erweist sich der Hinweis des Sozialgerichts Mainz auf die entgegenstehende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2004 als nicht stichhaltig. Dort kam es damals gerade nicht zu einem „Abschmelzungsbescheid“, sondern nur zu einer grundsätzlichen Feststellung der Rechtswidrigkeit des früheren Bescheides. Dem dürfte in der Tat nichts entgegen stehen. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Bescheides ist nämlich noch kein formeller Abschmelzungsbescheid. 

Damit bleibt die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit eines früheren Bescheides zwar feststellen zu dürfen, aber die Abschmelzung selbst darf es erst nach der Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse geben.

Rechtliche Grundlagen

§ 48 III SGB X

Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X)
§ 48 Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse
(1) Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit
1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.
(2) Der Verwaltungsakt ist im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft auch dann aufzuheben, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten des Berechtigten auswirkt; § 44 bleibt unberührt.
(3) Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Satz 1 gilt entsprechend, soweit einem rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zugrunde liegt, der nach § 45 nicht zurückgenommen werden kann.
(4) § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 gelten entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.
Fußnote
(+++ § 48: Zur Nichtanwendung vgl. § 108 Abs. 2 Satz 3 SGB 6 +++)