Der häufige Kauf neuer Schuhe kann auf Grund einer Behinderung notwendig sein. © Adobe Stock: okkijan2010
Der häufige Kauf neuer Schuhe kann auf Grund einer Behinderung notwendig sein. © Adobe Stock: okkijan2010

Eine grundsätzliche Entscheidung über die Anerkennung eines Mehrbedarfes im Rahmen der Unterstützungsleistungen des Jobcenters hatte das Sozialgericht Hamburg nicht zu treffen. Die Klägerin hatte nur einen Antrag auf Kostenübernahme für vier Paar Straßenschuhe gestellt.

 

Die Schuhe der Klägerin zeigten schon nach ein bis zwei Monaten Verschleißerscheinungen

 

Eine neurologische Erkrankung mit einer daraus resultierenden Fehlstatik der Beine, Sprunggelenke und Füße verursacht bei der Klägerin eine starke Veränderung des Gangbildes. Ihre Schuhe sind deshalb nach ein bis zwei Monaten an der Innenseite abgelaufen. Weil dadurch ein schräger Abrieb an der Sohle entsteht, der bei ihr nachweislich Knie- oder Fußschmerzen verursacht, muss sie häufiger als andere Menschen neue Schuhe kaufen.

 

Die Klägerin bezog Leistungen des Jobcenters und machte die Kosten für die von ihr gekauften vier Paar Schuhe als sogenannten Mehrbedarf gegenüber dem Jobcenter geltend. Sie brachte ihre Schuhe sogar in den Erörterungstermin zum Sozialgericht mit. Die zuständige Richterin bemühte sich sehr, die Umstände des Falls zu ermitteln.

 

Inga Hagelstein setzte sich durch

 

Die Gegenseite wollte jedoch bis in den Gerichtstermin hinein unter keinen Umständen einlenken. Die Krankenkasse sei zuständig und die Klägerin solle dort orthopädisches Schuhwerk beantragen. Der Vertreter der Gegenseite bestritt im Termin sogar die Notwendigkeit für die Anschaffung neuen Schuhwerks trotz positiven Gutachtens. So berichtet es uns Inga Hagelstein vom Rechtsschutzbüro Hamburg, die die Betroffene vor dem Sozialgericht erfolgreich vertrat.

 

Die Klägerin habe einen Anspruch auf Mehrbedarf für handelsübliche Schuhe wegen eines übermäßigen Verschleißes aufgrund ihrer Erkrankung, entschied das Gericht.

 

Das Gesetz regelt die Voraussetzungen für einen Mehrbedarf genau

 

Das Gesetz erkenne bei Leistungsberechtigten einen Mehrbedarf an, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender und nicht nur einmaliger besonderer Bedarf bestehe. Ein Bedarf sei unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt sei. Er müsse seiner Höhe nach erheblich vom durchschnittlichen Bedarf abweichen. Diese Voraussetzungen lägen bei der Klägerin vor.

 

Alle ein bis zwei Monate benötige sie neue handelsübliche Schuhe. Bei ihr bestehe auch ein besonderer Bedarf; denn anders als bei typischen Empfängern von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes sei bei ihr hinsichtlich der benötigten Schuhe ein erheblicher, überdurchschnittlicher Bedarf anzunehmen, der vom Regelbedarf nicht erfasst werde. Der Regelbedarf selbst basiere auf einer statistischen Durchschnittsbetrachtung.

 

Die Bedarfslage sei bei der Klägerin aufgrund des vermehrten Verschleißes ihrer Schuhe durch ein krankhaft verändertes Gangbild anders als diejenige von typischen SGB II-Empfänger*innen.

 

Für Schuhe gibt es statistische Werte

 

Für Kleidung und Schuhe sei nach dem Regelbedarf ein monatlicher Gesamtanteil in Höhe von 34,60 € ausgewiesen. Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich im Weiteren eine durchschnittliche monatliche Ausgabe für "Schuhe für Damen ab 14 Jahre" in Höhe von 5,30 €.

 

Die Klägerin habe mittels Rechnungen nachgewiesen, dass sie für den sechsmonatigen Bewilligungszeitraum, der im Klageverfahren streitgegenständlich sei, insgesamt vier Paar Schuhe gekauft habe. Der Schuhkauf sei erforderlich gewesen, weil die Schuhe an der Innenseite nicht mehr funktionstüchtig waren. Der Bedarf der Klägerin an Schuhen habe rund 19,46 € über dem eines durchschnittlichen Referenzhaushaltes gelegen.

 

Eine allgemeine Bagatellgrenze gebe es nicht. Anhand der Umstände des Einzelfalles, vor allem unter Berücksichtigung von Höhe, Dauer und Häufigkeit des Auftretens müsse das Jobcenter die Gefahr einer Unterdeckung des Existenzminimums bewerten. Der erhöhte Bedarf der Klägerin für Schuhe belaufe sich bei einem Regelbedarf in Höhe von 424 € auf ca. 4,5 - 4,6 % des Regelbedarfs. Damit liege der Bedarf der Klägerin in relativer Sicht zum Regelbedarf in einem Bereich, der nicht außer Betracht bleiben dürfe.

 

Dies errechnete das Gericht aus den von der Klägerin vorgelegten Rechnungen

 

Der Bedarf der Klägerin sei unabweisbar. Die Klägerin könne ihn nicht durch Zuwendungen Dritter und nicht unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten decken. Der Bedarf weiche auch seiner Höhe nach erheblich von dem durchschnittlichen Bedarf ab.

 

Eine Kostenübernahme für handelsübliche Schuhe durch die Krankenkasse komme nicht in Betracht. Krankenkassen zahlten nur für Hilfsmittel, die keine allgemeinen Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens seien. Es komme ausschließlich darauf an, ob das Mittel spezifisch der Bekämpfung einer Krankheit oder dem Ausgleich einer Behinderung diene. Handelsübliche Schuhe seien Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, da sie auch von Gesunden benutzt würden.

 

Auf „orthopädische“ Schuhe kam es nicht an

 

Der Beklagten könne die Klägerin auch nicht darauf verweisen, sich an die Krankenversicherung zu wenden, "wenn auch dann nur für orthopädische Schuhe" - wie es im Widerspruchsbescheid geschrieben stand. Die Klägerin begehre als Inhalt des Mehrbedarfs handelsübliche Schuhe und keine orthopädischen Schuhe.

 

Die Klägerin habe auch keine Einsparmöglichkeiten. Die geringen finanziellen Spielräume für Umverteilungen machten zur Feststellung von Einsparmöglichkeiten Anhaltspunkte dafür notwendig, dass gerade durch den atypischen oder besonderen Bedarf in einem anderen Bereich geringere Verbrauchsausgaben eintreten. Nur so könne verhindert werden, dass ein Teil des Regelbedarfs dauerhaft zur Deckung der sonstigen Regelbedarfe nicht zur Verfügung stehe. Derartige Anhaltspunkte seien bezogen auf die Klägerin nicht erkennbar.

 

Einen Hinweis für die Zukunft konnte das Gericht geben

 

Tatsächlich hatte die Klägerin nur die Übernahme der Kosten für vier Paar Schuhe beantragt. Grundsätzlich ging es deshalb im Prozess auch nur um genau diesen Mehrbedarf. Dennoch veranlasste das Ergebnis der Erörterungen im Gerichtstermin und wohl auch die fortwährend ablehnende Auffassung des Vertreters des Beklagten das Gericht zu folgendem Hinweis:

 

"Schließlich ergeben auch die Umstände des vorliegenden Einzelfalles, dass die Klägerin grundsätzlich einen regelmäßigen monatlichen höheren Bedarf hat, der aufgrund der angeborenen Erkrankung ohne bestimmte zeitliche Beschränkung anfällt (...). Längerfristige Planungen bieten der Klägerin keine Möglichkeit zur Deckung dieses immer wieder anfallenden besonderen Bedarfs."

 

Bleibt die Hoffnung, dass das Jobcenter nach diesem eindeutigen Urteil der ohnehin schon stark belasteten Klägerin keine weiteren Steine mehr in den Weg legt.

 

Hier geht es zum Urteil des Sozialgerichts Hamburg.

 

 

Rechtliche Grundlagen

§ 21 VI SGB II

(…)
6) Bei Leistungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht; bei einmaligen Bedarfen ist weitere Voraussetzung, dass ein Darlehen nach § 24 Absatz 1 ausnahmsweise nicht zumutbar oder wegen der Art des Bedarfs nicht möglich ist. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
(…)