Die notwendige und vom Kläger für teures Geld angeschaffte Handprothese sah das Jobcenter als Verschwendung an. © Adobe Stock: primipil
Die notwendige und vom Kläger für teures Geld angeschaffte Handprothese sah das Jobcenter als Verschwendung an. © Adobe Stock: primipil

Es handelte sich um ein sehr schwieriges und gleichzeitig auch sehr wichtiges Verfahren, das Christoph Nagel vom Rechtsschutzbüro Bad Kreuznach führte. Der rechtliche Anknüpfungspunkt der Entscheidung war § 31 Abs. 2 Nr. 1 SGB II. Darin heißt es:

 

„Eine Pflichtverletzung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ist auch anzunehmen, wenn

1.             sie nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermögen in der Absicht vermindert haben, die Voraussetzung für die Gewährung oder Erhöhung des Arbeitslosengeldes II herbeizuführen.

2.             (…)“

 

Weiter bestimmt § 34 Abs. 1 SGB II:

 

„Wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, ist zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet.“

 

Das Jobcenter, bei dem der Kläger im Übrigen geraume Zeit zuvor bereits selbst gearbeitet hatte, rechnete ihm Vermögen auf die Leistung nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II) an und warf ihm vor, das Geld bewusst verschleudert zu haben.

 

Mehrere unverschuldete Notlagen traten auf

 

Der inzwischen 64-jährige Kläger war jahrelang solo-selbstständig und arbeitete als Diplom-Designer. Durch einen Unfall hatte er 1975 seine rechte Hand verloren und ist seitdem mit einer Prothese versorgt. Weil er infolge dessen damals mehrere Monate arbeitsunfähig erkrankt war, verlor er viele seiner Aufträge.

 

Nach dem Abschluss eines Studiums als Grafik-Designer 1988 versuchte der Kläger zunächst, in einer abhängigen Beschäftigung Fuß zu fassen. Dies gelang ihm wegen seiner Behinderung nicht, so dass er sich 1991 entschloss, eine selbständige Tätigkeit aufzunehmen. Diese übte er bis 2011 mit mäßigem Erfolg aus; zum Start musste er ein Gründungsdarlehen in Höhe von 30.000,00 DM und später zur Überbrückung finanzieller Engpässe weitere Kredite aufnehmen. Insgesamt beliefen sich die berufsbedingten Darlehen auf rund 24.000,00 €.

 

Über die Jahre suchte der Kläger immer wieder Arbeit, und fand diese von 2012 bis 2015 auch, und zwar als Sachbearbeiter des nun im Verfahren beklagten Jobcenters.

 

Das Alter und die Behinderung stellten Hindernisse bei der Jobsuche dar

 

Der Kläger war zu diesem Zeitpunkt schon über 50 Jahre alt. Er erhielt immer wieder befristete Arbeitsverträge. Als ihm das Jobcenter keinen befristeten Vertrag mehr geben durfte, sondern ihn hätte fest anstellen müssen, sah man von einer Weiterbeschäftigung ab.

 

Der Kläger bezog zunächst Arbeitslosengeld I und bewarb sich auf viele Stellen. Doch weil ihm die zweite Hand fehlte, war die Zahl der Arbeitsplätze, auf die er sich bewerben konnte, nur dünn gesät.

 

Als schwerbehinderter Mensch erhielt er regelmäßig Einladungen zu Vorstellungsgesprächen, anschließend jedoch Absagen. Während des Bezuges von Arbeitslosengeld I stotterte er seinen Kredit ab. Er erhielt bald Arbeitslosengeld II durch den Beklagten, zahlte jedoch weiterhin auf den Kredit.

 

Das vorgezogene Erbe verbesserte die Situation

 

Die damals schon über 80jährige Mutter des Klägers schenkte diesem in dieser Situation 52.000,00 € als vorgezogenes Erbe. Damit wollte der Sohn seinen Kredit bedienen. Darüber informierte der Kläger die Beklagte im Vorfeld der Zahlung und meldete sich aus dem Leistungsbezug ab.

 

Das Jobcenter strich einen Teil des Geldes ein. Denn zu dem Zeitpunkt, in dem das Geld auf dem Konto des Klägers einging, seien schon Leistungen bewilligt worden, hieß es im damaligen Bescheid. Nun forderte die Beklagte den Kläger wegen sozialwidrigen Verhaltens gemäß § 34 SGB II auf, knapp 11.000 € gemäß § 34 SGB II zurückzuzahlen.

 

Vorausgegangen waren dem einige Käufe des Klägers. Ende September 2017 hatte sich der Kläger ein behindertengerecht ausgestattetes Fahrzeug für 15.990 € gekauft, welches über eine Anfahrhilfe verfügte. Sein bis dahin gefahrener, 22 Jahre alter PKW wies eine Kilometerleistung von über 200.000 auf und konnte wegen eines Schadens am Bremssystem im August 2017 ohne eine sofortige, kostspielige Reparatur nicht mehr genutzt werden.

 

Weitere Anschaffungen blieben nicht aus

 

Bis ca. Ende Oktober 2017 hatte der Kläger rund 2.000,00 € an den Landkreis zurückgezahlt, günstige Winterreifen gekauft und seiner Tochter nach Beendigung deren Studiums 1.000,00 € geschenkt. Für seinen körperbehinderten Sohn schaffte er ein Vibrationsgerät für 400,00 € an und für sich selbst ein Tablet für 400,00 € zuzüglich Software für Internetpräsentationen; die Kosten hierfür beliefen sich auf ca. 700 € bis 800 €. Bis Ende Oktober 2017 hatte der Kläger davon ca. 500,00 € ausgegeben.

 

Zudem ließ sich der Kläger eine Silikonprothese (sog. Schmuckhand) für 2.000,00 € anfertigen. Den Preis zahlte er in unterschiedlich hohen Raten bis Ende Dezember 2017 ab. Außerdem fielen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung an.

 

Es gab keine besonderen Ausgaben

 

Das Landessozialgericht stellte fest, dass der Kläger weder Möbel kaufte, noch sonstige teure Anschaffungen für seinen privaten Gebrauch tätigte; er verreiste auch nicht. Insgesamt änderte sich sein Lebensstil auch nach der Schenkung seiner Mutter nicht merklich. Lediglich seine Kinder sah er in dieser Zeit öfter und lud sie gelegentlich zum Essen ein.

 

Währenddessen suchte der Kläger weiter nach Arbeit. Im Oktober 2017 verfügte er noch über rund 27.000 €, im September 2018 waren es nur noch ca. 3.500 €. Die Beklagte warf ihm vor, er habe die Zuwendung seiner Mutter in Höhe von 52.000 € durch sein Verbrauchsverhalten zumindest grob fahrlässig derart schnell eingesetzt, dass bereits zum 1. Juli 2018 erneut Hilfebedürftigkeit eingetreten sei.

 

Die Klage vor dem Sozialgericht Mainz blieb erfolglos

 

Das Jobcenter stützte sich in seiner Argumentation vor Gericht auf eine Einkommens- und Verbrauchstatistik aus dem Jahre 2012, in dem das Ausgabeverhalten von Männern in Ein-Personen-Haushalten untersucht worden war. Der Kläger habe weit mehr verbraucht, als für einen solchen Haushalt typisch.

 

Die Jurist*innen des DGB Rechtsschutz wandten demgegenüber ein, dass der Kläger während des Bezuges von Leistungen nach dem SGB II zu Bewerbungsaktivitäten verpflichtet sei, einen behinderungsbedingten Mehrbedarf habe und Schulden abtragen musste. Sie hielten die vorgelegte Statistik für veraltet.

 

Ganz besonders kam es ihnen jedoch die subjektive Komponente des § 31 SGB II an. Danach müsse gerade die Absicht bestehen, Bedürftigkeit herbeizuführen. Beim Kläger gehe es nicht um einen Lottogewinner, der sein Vermögen verprasst. Vielmehr habe der Kläger sehr viel Zeit und Geld investiert, um eine neue Stelle zu erhalten, und um seinen vertraglichen Pflichten nachzukommen.

 

Die Bewerbungen kosteten viel

 

 

Schwierig, so Nagel, sei es gewesen, umfangreich vorzutragen, wie viel Geld der Kläger für Bewerbungen ausgegeben hatte, welche Gegenstände wegen seiner Behinderung und der Behinderung seines Sohnes gekauft habe etc. Nachdem das bis ins Detail hin gelungen war, zeigte sich das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger sein Vermögen nicht zu Lasten der Allgemeinheit verschleudert hatte.

 

Ersatzansprüche nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II wegen der Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II bestünden nur "bei sozialwidrigem Verhalten", so das LSG. Der Vorwurf der Sozialwidrigkeit sei darin begründet, dass Betreffende in zu missbilligender Weise sich selbst oder ihre unterhaltsberechtigten Angehörigen in die Lage brächten, existenzsichernde Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen.

 

Nicht alles führt zur Erstattungspflicht

 

Nicht jedes Fehlverhalten begründe zugleich einen Ersatzanspruch. Solle dasselbe Verhalten, dass zu einer Minderung der Leistungsansprüche führe, zusätzlich eine Ersatzpflicht auslösen, setzte diese Ersatzpflicht mit erheblich schwerer wiegenden Folgen grundsätzlich einen gesteigerten Verschuldensvorwurf voraus.

 

Fordere man diesen nicht, hätte es der Minderungsregelung neben den Vorschriften zur Erstattungspflicht nicht bedurft. Das Kennzeichen eines Ersatzanspruchs bestehe darin, dass die in § 31 SGB II ausgedrückten Verhaltenserwartungen in besonders hohem Maß verletzt worden seien.

 

Bei dem Erstattungsanspruch handele es sich um eine Ausnahme von dem Grundsatz, existenzsichernde und bedarfsabhängige Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch bestehe, regelmäßig unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten.

 

Die Ersatzpflicht besteht nicht schrankenlos

 

Dieser Grundsatz einer "verschuldensfreien" Deckung des Existenzminimums dürfe nicht durch eine weitreichende Ersatzpflicht der Leistungsberechtigten und ihrer Angehörigen konterkariert werden. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Ersatzanspruch seiner Höhe nach nicht begrenzt sei. An den Verschuldensvorwurf, der zur Erstattungspflicht führe, seien daher hohe Anforderungen zu stellen.

 

Dem Kläger sei ein sozialwidriges Verhalten nicht vorzuwerfen. Sein Verhalten habe er erkennbar nicht auf den Wegfall der Erwerbsmöglichkeit gerichtet, das Gegenteil sei der Fall gewesen: Nach seinen überzeugenden und glaubwürdigen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung habe er alles getan, um seine Erwerbsmöglichkeit zu erhalten und zeitnah zu realisieren. Zudem sei seine Motivation, einen Betrag von rund 40.000,00 € im Zeitraum September 2017 bis Juni 2018 auszugeben, nicht auf die Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit gerichtet gewesen.

 

Sozialwidrigkeit fordere ein Verhalten, das zwar nicht „rechtswidrig" im Sinne unerlaubter oder strafbarer Handlungen zu sein brauche, aber aus Sicht der Solidargemeinschaft zu missbilligen sei. In dem vorschnellen, verschwenderischen Verbrauch vorhandenen bzw. zugeflossenen Vermögens bestehe ein naheliegender Fall sozialwidrigen Verhaltens. Jedoch sei auch hier eine differenzierte und wertende Betrachtungsweise geboten. In diese müsse einbezogen werden, welches Ausgabeverhalten grundsicherungsrechtlich zu erwarten war, welche die konkreten Umstände des jeweiligen Verhaltens waren und schließlich auch, wofür der Betrag verbraucht wurde.

 

Die Interessenabwägung fiel zu Gunsten des Klägers aus

 

Dem Kläger könne das Gericht bei wertender Betrachtung seiner Motivation ein sozialwidriges Verhalten trotz des Verbrauchs des erhaltenen Geldbetrages in rund 9,5 Monaten nicht vorwerfen.

 

Im Rahmen der wertenden Betrachtung und notwendigen Interessenabwägung sei es nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten, zumindest grob zu prüfen, ob das Ausgabeverhaltens schlüssig war und das dann zu bewerten. Es liege auf der Hand, dass es wertungsmäßig einen Unterschied mache, ob jemand die unerwartete Zuwendung für kostspielige, luxuriöse Gegenstände und beispielsweise entsprechende Reisen verwende oder ob er damit notwendige Kredite abbezahle bzw. Anschaffungen tätige, die zu einem durchschnittlichen, über dem Existenzminimum liegenden Lebensstandard gehörten.

 

Die vom Beklagten im Verfahren vorgelegten Einkommensstatistiken spiegelten die Lebenswirklichkeit der jeweiligen Gruppe im Durchschnitt ab. Sie berücksichtige aber bei den Arbeitslosen gerade nicht, dass - wie im Fall des Klägers - eine besondere Lebenssituation durch eine (unerwartete) finanzielle Zuwendung entstanden sei.

 

Für die Berechnung des angemessenen Eigenbedarfs sei der doppelte Regelsatz eines Haushaltsvorstands am Wohnort der Haushaltsgemeinschaft zu Grunde zu legen. Bei der Ermittlung der nicht als sozialwidrig zu qualifizierenden monatlichen Ausgaben des Klägers seien neben der Berücksichtigung dieses Bedarfs zudem nicht gegen jede Vernunft verstoßende und somit nachvollziehbare Ausgaben anzusetzen und diese ins Verhältnis zu den tatsächlichen monatlichen Ausgaben zu stellen.

 

Vertragsmäßiges Verhalten ist nicht unangemessen

 

Es sei nicht unangemessen, einen Kredit, der zudem aus der beruflichen Tätigkeit resultiere, zu bedienen und sich gegenüber seinem Gläubiger vertragsgemäß zu verhalten. Gleiches gelte auch für die angefallenen Bewerbungskosten, weil diese letztlich auch im Interesse des Beklagten und des Steuerzahlers entstanden seien und der Kläger mit seinen intensiven Bewerbungen genau das erfüllt habe, was das SGB II von ihm verlange.

 

Der Kläger habe den dringend erforderlichen PKW kaufen dürfen. Auch die späteren Ausgaben seien aus gesundheitlichen Gründen und zur Verbesserung der beruflichen Möglichkeiten des Klägers entstanden. Dass der Kläger seine Tochter nach Beendigung ihres Studiums im Rahmen ihrer Wohnungssuche wenigstens in einem geringen Umfang unterstützen wollte, sei ebenfalls nachvollziehbar.

 

Von November 2017 bis Juni 2018 habe der Kläger einen Betrag in Höhe von rund 17.000 € ausgegeben; dies entspreche einem monatlichen Betrag von etwa 2.300 €. Das stelle kein verschwenderisches, auf die Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit ausgerichtetes Verhalten dar. Der Kläger habe auch keinen Betrug begangen.

 

Ärger bleibt

 

Christoph Nagel lässt uns wissen, der Kläger habe zwar inzwischen einen neuen Job und könne als schwerbehinderter Mensch demnächst die vorgezogene Altersrente beantragen, doch diese Angelegenheit sei für ihn eine mehr als bittere Erfahrung gewesen. Aus dem Urteil werde deutlich, wie sehr das Jobcenter diesem Menschen zugesetzt habe.

 

Hier geht es zum Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz.