Fehlende öffentliche Toiletten begründen Anspruch auf Toilettengeld.
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Fehlende öffentliche Toiletten begründen Anspruch auf Toilettengeld. Copyright: @Adobe Stock – www.jh-fotos.de

Der in Essen lebende Kläger ist Rentner und bezieht aufstockende Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII.

 

Rentner beantragt "zusätzlichen Bedarf“

Gegenüber der beklagten Stadt machte er geltend, er müsse dreimal täglich außer Haus eine Toilette aufsuchen. Kostenlose öffentliche Toiletten habe die Stadt schon vor langer Zeit abgeschafft.

 

Im Durchschnitt koste jeder Toilettenbesuch 2 Euro.

Auf 30 Tage gerechnet errechne sich ein zusätzlicher Bedarf von 180 Euro pro Monat.

 

Das Sozialgericht (SG) Duisburg wies die Klage ab. Gegen diese Entscheidung legte der Kläger Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Essen.

 

Keine Rechtsgrundlage für Anspruch auf Toilettengeld

Da für den geltend gemachten Anspruch keine Rechtsgrundlage gegeben sei, wies das LSG mit Urteil vom 31. Januar 2022 die Berufung des Klägers zurück.

Denn, so das Gericht:

Voraussetzungen für die Annahme eines ernährungsbedingten Mehrbedarfs aus medizinischen Gründen nach § 30 Abs. 5 SGB XII liegen nicht vor. Nach dem gesetzgeberischen Willen sei die Regelung abschließend.

 

Mangels Regelungslücke scheide auch eine analoge Anwendung aus. Für eine abweichende Regelfestsetzung nach § 27b Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB XII biete der Fall des Klägers keinen Raum. Denn der durch die Regelbedarfe abgedeckte Bedarf liege nicht auf Dauer unausweichlich in mehr als geringem Umfang oberhalb durchschnittlicher Bedarfe. Der Kläger sei nach seiner eigenen Schilderung altersentsprechend gesund und weise daher keine überdurchschnittliche Notwendigkeit von Toilettengängen auf.

 

Begehrter Aufwand liegt jenseits üblichen Verhaltens

Der geltend gemachte Aufwand liege jenseits des üblichen Verhaltens der Durchschnittsbevölkerung und sei daher eine Frage der Freizeitgestaltung. Im Regelsatz seien für die Bereiche Freizeit/Kultur, Gastronomie/Beherbergung sowie andere Waren/Dienstleistungen Anteile enthalten. Wie der Kläger das Geld einsetze, liege in seiner Eigenverantwortung. Bei Personen, die zum Lebensunterhalt im Alter Grundsicherungsleistungen benötigten, müsse nicht jeder Freizeitgestaltungswunsch bezahlt werden.

 

Sozialgerichtliche Verfahren keine Plattform für lokalpolitischer Forderungen

Letztendlich, so die Essener LSG-Richter*innen, spiele es für die Entscheidung keine Rolle, wie die Situation vor Ort sei.

Insbesondere sei das sozialgerichtliche Verfahren auch kein Vehikel zur Durchsetzung lokalpolitischer Forderungen.

 

Hier finden Sie die Pressemitteilung des LSG Essen vom 31.1.2022. 

Das sagen wir dazu:

Wer eine öffentliche Toilette benutzt, muss meistens dafür zahlen. Weil öffentliche Toiletten in unseren Städten immer seltener werden, hilft häufig auch nur der Abtritt in einem Wirtshaus, was die Kosten für das natürliche Bedürfnis zuweilen explodieren lässt: damit der Wirt die Nutzung überhaupt gestattet, ist zumindest ein kleiner Cappuccino fällig. Im Kapitalismus kann eben alles zur kostenpflichtigen Dienstleistung gemacht werden.

 

Dabei ist auch vor mehr als zweitausend Jahren, also anderthalb Jahrtausende bevor die ersten Pflänzchen des Kapitalismus das Licht der Welt erblickten, jemand auf die Idee gekommen, für das Benutzen öffentlicher Bedürfnisanstalten Geld zu verlangen. Der römische Kaiser Vespasian ist nicht nur bekannt dafür, dass er das Kolosseum in Auftrag gegeben hat. Er soll auch – so bezeugt zumindest eine Legende – eine Latrinensteuer eingeführt haben. In Rom, einer Stadt, in der die meisten Menschen in Insulae lebten, Mietskasernen, die über keinerlei sanitäre Anlagen verfügten. Diese Menschen hatten nur die öffentlichen Latrinen, wollten sie nicht ihr Geschäft heimlich unter Gefahr empfindlicher Strafen in öffentlichem Gelände wie dem Circus Maximus verrichten. Vespasian wurde denn auch von seinem Sohn, dem späteren Kaiser Titus gerügt. Er hielt ihm verärgert die ersten Sesterzen aus den Latrinen-Einnahmen unter die Nase mit den – lateinischen – Worten: „ad nares, sciscitans num odore offenderetur“, was frei übersetzt auf Deutsch so viel heißt wie: „an die Nase damit, ich frage Dich, ob der Geruch Dich stört?“ Worauf Vespasian nur ruhig und lateinisch geantwortet haben soll: „pecunia non olet“ – Geld stinkt nicht.

 

Das wurde zum geflügelten Wort und hat sich bis heute gehalten. So antworten Menschen gerne, denen man vorwirft, sie hätten ihr Geld mit nicht ganz sauberen Geschäften verdient. Geld stinkt nicht, auch nicht, wenn es mit dem Leid anderer Menschen verdient wird. Jetzt wollen wir keine unpassenden Vergleiche anstrengen. Aber irgendwie verdient entweder der Staat bei öffentlichen Toiletten oder Wirte, die ihre Toiletten nur gegen Konsum zur Verfügung stellen, am Leid anderer Menschen. Um einen ernährungsbedingten Mehrbedarf aus medizinischen Gründen handelt es sich insoweit aber nicht. Da stimmen wir dem Gericht zu. Auch wenn zu entsorgende Stoffwechselendprodukte durchaus „ernährungsbedingt“ sind. Die Entsorgung erfolgt aber nicht aus medizinischen Gründen, weil sie weder auf körperliche noch seelische oder geistige Regelwidrigkeiten zurückzuführen ist.

 

Was aber aus unserer Sicht irritierend ist, ist die Auffassung des Gerichts, dass der „geltend gemachte Aufwand“ jenseits des üblichen Verhaltens der Durchschnittsbevölkerung liege und daher eine Frage der Freizeitgestaltung sei. Wir wissen nicht, wie die Richter*innen des 20. Senats des LSG Essen ihre Freizeit verbringen. Aber Toilettengänge mit Freizeitgestaltung zu assoziieren, ist freilich seltsam. Klar meint der Senat wohl nicht den Toilettengang an sich, sondern die Tatsache, dass der Betreffende sich erdreistet hat, am Leben in der Gesellschaft unter anderem durch Spaziergänge und Einkäufe teilzunehmen. Insoweit sind die damit verbundenen notwendigen Toilettengänge so etwas wie Verrichtungen der mittelbaren Freizeitgestaltung.

Wie dem auch sei, sie stellen jedenfalls keinen vom Gesetz vorgesehenen Mehrbedarf dar. Das eigentliche Problem liegt aber darin – und da schließt sich der Kreis zum Anfang dieses Beitrags – dass Städte und Gemeinden immer weniger Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung stellen, die eigentlich zur Grundversorgung der Bürger*innen gehören. 

Rechtliche Grundlagen

Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe -

§ 30 Absatz 5 SGB XII Mehrbedarf
(5) Für Leistungsberechtigte wird ein Mehrbedarf anerkannt, wenn deren Ernährungsbedarf aus medizinischen Gründen von allgemeinen Ernährungsempfehlungen abweicht und die Aufwendungen für die Ernährung deshalb unausweichlich und in mehr als geringem Umfang oberhalb eines durchschnittlichen Bedarfs für Ernährung liegen (ernährungsbedingter Mehrbedarf). Dies gilt entsprechend für aus medizinischen Gründen erforderliche Aufwendungen für Produkte zur erhöhten Versorgung des Stoffwechsels mit bestimmten Nähr- oder Wirkstoffen, soweit hierfür keine vorrangigen Ansprüche bestehen. Die medizinischen Gründe nach den Sätzen 1 und 2 sind auf der Grundlage aktueller medizinischer und ernährungswissenschaftlicher Erkenntnisse zu bestimmen. Dabei sind auch die durchschnittlichen Mehraufwendungen zu ermitteln, die für die Höhe des anzuerkennenden ernährungsbedingten Mehrbedarfs zugrunde zu legen sind, soweit im Einzelfall kein abweichender Bedarf besteht.



§ 27b Notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen
(1) Der notwendige Lebensunterhalt umfasst
1.
in Einrichtungen den darin erbrachten Lebensunterhalt,
2.
in stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt.
Der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen entspricht dem Umfang
1.
der Regelbedarfsstufe 3 nach der Anlage zu § 28 bei Leistungsberechtigten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, und den Regelbedarfsstufen 4 bis 6 nach der Anlage zu § 28 bei Leistungsberechtigten, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,
2.
der zusätzlichen Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels,
3.
der Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 42 Nummer 4 Buchstabe b.
(2) Der weitere notwendige Lebensunterhalt nach Absatz 1 Nummer 2 umfasst insbesondere einen Barbetrag nach Absatz 3 sowie Bekleidung und Schuhe (Bekleidungspauschale) nach Absatz 4; § 31 Absatz 2 Satz 2 ist nicht anzuwenden.
(3) Der Barbetrag nach Absatz 2 steht für die Abdeckung von Bedarfen des notwendigen Lebensunterhalts nach § 27a Absatz 1 zur Verfügung, soweit diese nicht nach Absatz 1 von der stationären Einrichtung gedeckt werden. Die Höhe des Barbetrages beträgt für Leistungsberechtigte nach diesem Kapitel,
1.
die das 18. Lebensjahr vollendet haben, mindestens 27 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28,
2.
haben diese das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet, setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen die Höhe des Barbetrages fest.
Der Barbetrag ist in der sich nach Satz 2 ergebenden Höhe an die Leistungsberechtigten zu zahlen; er ist zu vermindern, wenn und soweit dessen bestimmungsgemäße Verwendung durch oder für die Leistungsberechtigten nicht möglich ist.
(4) Die Höhe der Bekleidungspauschale nach Absatz 2 setzen die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen für die in ihrem Bereich bestehenden Einrichtungen fest. Sie ist als Geld- oder Sachleistung zu gewähren; im Falle einer Geldleistung hat die Zahlung monatlich, quartalsweise oder halbjährlich zu erfolgen.