Jobcenter verweigert Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. Copyright by Adobe Stock/Harald07
Jobcenter verweigert Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. Copyright by Adobe Stock/Harald07

Im Frühjahr 2019 reiste ein bulgarisches Ehepaar mit zwei minderjährigen Kindern in die Bundesrepublik ein. Zunächst wurde die Familie von Verwandten finanziell unterstützt. Im Mai 2019 nahm der Mann eine Tätigkeit als Landschaftsgärtner auf. Sein Nettoverdienst betrug 680 Euro bei einer monatlichen Arbeitszeit von 80 Stunden. Einige Tage nach der Arbeitsaufnahme erlitt er einen Arbeitsunfall. Er erhielt daraufhin Verletzten- und danach Krankengeld. Ergänzend beantragte er Grundsicherungsleistungen.
 

Jobcenter verweigert verunglückten bulgarischen Arbeitnehmer Hartz-IV-Leistungen

Sein Antrag auf diese Leistungen wurde vom Jobcenter (JC) abgelehnt. Begründet wurde die Entscheidung des JC damit, die Grundsicherungsleistungen seien ausgeschlossen, weil der Aufenthalt des Antragstellers sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe. Gegen diese Entscheidung wandte sich der Mann in Rahmen eines Eilverfahrens an die Sozialgerichtsbarkeit.

In dem vom Hessischen Landessozialgericht (LSG) entschiedenen Eilverfahren hatten die Richter*innen darüber zu befinden, ob von einem, wie vom JC gemutmaßten Missbrauch auszugehen ist, wenn der Betroffene durch seine Arbeitnehmertätigkeit seinen eigenen Bedarf fast vollständig selbst decken kann.
 

Bei fast vollständiger Deckung des eigenen Bedarfs durch Arbeitnehmertätigkeit kein Missbrauch des EU-Freizügigkeitsrecht

Per Beschluss verpflichtete das Hessische Landessozialgericht das JC, der Familie vorläufig laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II zu gewähren. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass der Mann mit der Arbeitsaufnahme als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt sei. Auch habe er sich nicht rechtsmissbräuchlich auf das Freizügigkeitsrecht berufen. Denn die Inanspruchnahme von Sozialleistungen, die aufstockend zu einer tatsächlichen Arbeitnehmertätigkeit gewährt werden, begründe nicht per se einen entsprechenden Missbrauch. Diese gelte auf jeden Fall, wenn der Betroffene durch seine Arbeitnehmertätigkeit den eigenen Bedarf fast und zumindest unter zusätzlicher Inanspruchnahme von Wohngeld decken könne. Bei einem, wie von dem Kläger, erzielten Monatslohn von knapp 700 Euro netto, könne hiervon ausgegangen werden. 

Hier geht es zur Pressemitteilung des Hessischen Landesozialgerichts vom 25.2.2020

Das sagen wir dazu:

Was bedeutet „Freizügigkeit“?

Einreise und Aufenthalt von EU-Bürgern (EU-Freizügigkeit)

Jeder Unionsbürger hat das Recht, ohne Visum in die Mitgliedstaaten der EU, des EWR (EU plus Island, Liechtenstein und Norwegen) und der Schweiz einzureisen. Sie dürfen sich dort für die Dauer von drei Monaten aufhalten. Unionsbürger müssen dazu im Besitz eines gültigen Ausweisdokuments sein, aber keine weiteren Voraussetzungen oder Bedingungen erfüllen. Dies bezeichnet man als Freizügigkeit.

Das Recht zum Aufenthalt von mehr als drei Monaten genießen folgende Unionsbürger:

  • Arbeitnehmer oder Selbständige im Aufnahmemitgliedstaat sind sowie Arbeitsuchende (für eine gewisse Zeitdauer)
  • nicht erwerbstätige Unionsbürger sowie Studierende oder Auszubildende, die über ausreichende eigene Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz verfügen
  • Daueraufenthaltsberechtigte (nach einem rechtmäßigen Aufenthalt von fünf Jahren)
  • Familienangehörige dieser Unionsbürger ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit

Grundgedanke ist also, dass Unionsbürger für einen Aufenthalt von mehr als drei Monaten in der Regel in der Lage sein müssen, sich und ihre Familienangehörigen wirtschaftlich zu erhalten und die Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedstaates nicht unangemessen zu beanspruchen.

Erwerbstätigkeit in der Europäischen Union

Die oben genannten speziellen Ausprägungen der Freizügigkeit wie Arbeitnehmer-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sollen sicherstellen, dass Unionsbürger sich unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer im jeweiligen Mitgliedstaat wirtschaftlich betätigen können, ohne Diskriminierung ausgesetzt zu sein.

Rechtliche Grundlagen

Artikel 21 "Freizügigkeitsgesetz" und Auszug aus § 7 SGB II

Auszug aus „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“
Artikel 21

(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
(2) Erscheint zur Erreichung dieses Ziels ein Tätigwerden der Union erforderlich und sehen die Verträge hierfür keine Befugnisse vor, so können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Vorschriften erlassen, mit denen die Ausübung der Rechte nach Absatz 1 erleichtert wird.
(3) Zu den gleichen wie den in Absatz 1 genannten Zwecken kann der Rat, sofern die Verträge hierfür keine Befugnisse vorsehen, gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen erlassen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments.


II
Auszug aus § 7 SGB II in der Fassung vom 30.11.2019
(1) Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die
1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7 a noch nicht erreicht haben,
2. erwerbsfähig sind,
3. hilfebedürftig sind und
4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Ausgenommen sind
1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2. Ausländerinnen und Ausländer,
a) die kein Aufenthaltsrecht haben,
b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen