Das Jobcenter kann ältere Arbeitslose unter bestimmten Umständen zum rentenantrag zwingen. Copyright by Adobe Stock/Andrey Popov
Das Jobcenter kann ältere Arbeitslose unter bestimmten Umständen zum rentenantrag zwingen. Copyright by Adobe Stock/Andrey Popov

Wer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung begehrt, muss einen Antrag bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) stellen. Hierzu ist aber grundsätzlich niemand gezwungen. Wer die Rente aus welchen Gründen auch immer nicht möchte, beantragt sie halt nicht. Er bekommt dann auch keine Rente.

Die Macht des Faktischen zwingt viele aber doch dazu, einen Rentenantrag zu stellen. Schließlich dient die gesetzliche Rente zumeist dazu, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wenn man nicht gerade reich ist.

Manchmal zwingen uns die Umstände, Anträge zu stellen

Es gibt in den Gesetzen einige Bestimmungen, die Menschen dazu zwingen, Rente bereits zu beantragen, bevor sie überhaupt die gesetzliche Regelaltersgrenze erreicht haben, die ja jetzt grundsätzlich bei 67 Jahren liegt.  Auch wenn wir uns derzeit nur in einer Übergangsphase befinden.

Krankenkassen können etwa Versicherte, die lange Zeit krank sind und Krankengeld bekommen, auffordern einen Antrag auf Rehabilitation zu stellen. Weigern sie sich, kann die Kasse das Krankengeld sperren. Ein Rehabilitationsantrag kann von der DRV in einen Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit umgedeutet werden, wenn sich herausstellt, dass der Betroffene erwerbsgemindert ist.

Empfänger von Hartz IV können gezwungen werden, einen Rentenantrag zu stellen

Wer Hartz IV bekommt, ist insoweit von einer anderen Vorschrift betroffen: nach § 12a Sozialgesetzbuch II (SGB II) ist er verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Die Vorschrift bestimmt aber auch, dass abweichend davon niemand verpflichtet ist, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen.

Jetzt gibt es aber immer noch Fälle, in denen ein Versicherter Anspruch auf Altersrente vor Vollendung der Regelaltersgrenze in Anspruch nehmen kann. Das gilt etwa für schwerbehinderte Menschen oder für Menschen, die besonders lange in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Letztere können unter gewissen Voraussetzungen bereits mit Vollendung des 63. Lebensjahres in die Altersrente gehen.

Unter gewissen Umständen kann auch die Agentur für Arbeit für einen Arbeitslosen Rente beantragen

Jetzt kommen weitere Vorschriften des SGB II zum Zuge: das Jobcenter braucht nach § 7 Absatz 4 keine Leistungen für Menschen zahlen, die Altersrente beziehen. § 5 SGB II regelt, dass Hartz-IV-Leistungen grundsätzlich nachrangig sind. Die Agentur für Arbeit kann sogar einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. Das darf sie allerdings nur, wenn der Hilfebedürftige unterlassen hat, selbst einen entsprechenden Antrag zu stellen, obwohl das Jobcenter ihn dazu aufgefordert hat.
Eine solche Aufforderung des Jobcenters stellt einen Bescheid dar, gegen den der Betroffene Widerspruch einlegen kann.

Ein Widerspruch gegen die Aufforderung des Jobcenters hat keine aufschiebende Wirkung

Und jetzt wird es spannend: der Widerspruch hat in diesem Fall keine aufschiebende Wirkung. Im Regelfall verhält es sich so, dass ein Bescheid erst wirksam wird, wenn der Rechtsweg vollkommen ausgeschöpft ist. Für das Sozialrecht bestimmt das § 86a Sozialgerichtsgesetz (SGG). Allerdings regelt das Gesetz diverse Ausnahmen, in denen Widerspruch und Klage keine aufschiebende Wirkung entfalten. Das ist etwa bei Bescheiden über öffentliche Abgaben der Fall, also beispielsweise bei Beiträgen zur Sozial- und Arbeitslosenversicherung.

Ein weiterer Fall ist, wie gesagt, die Aufforderung durch das Jobcenter, einen Rentenantrag zu stellen. Das hat zur Folge, dass die Bundesagentur für Arbeit ihrerseits den Antrag bei der DRV stellen kann. Der Betroffene bekäme also möglicherweise Rente, obwohl er es gar nicht will. Etwa, weil er noch weitere rentenrechtliche Zeiten „ansammeln“ möchte, um später eine höhere Rente zu erhalten.

Frau Buchmann wehrt sich gegen die Aufforderung, einen Rentenantrag zu stellen

Mit einem solchen Fall war unser Büro in Essen befasst. Svenja Buchmann (Name von der Redaktion geändert) hatte das 63. Lebensjahr vollendet und wurde vom Jobcenter aufgefordert, einen Rentenantrag zu stellen. Gegen diesen Bescheid hatte sie Widerspruch eingelegt. Zugleich hatte sie beim Sozialgericht Düsseldorf in einem Eilverfahren beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen.

Dafür gibt es nämlich auch eine Rechtsgrundlage. § 86b SGG bestimmt unter anderem, dass das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen kann. Der Betroffene muss dem Gericht glaubhaft machen, dass

  1. er einen Anspruch auf die Anordnung hat (Anordnungsanspruch) und

  2. die Sache eilbedürftig ist (Anordnungsgrund)

Dass die Sache im vorliegenden Fall eilbedürftig war, war schnell glaubhaft gemacht. Wenn die Arbeitsagentur den Rentenantrag gestellt und die DRV bewilligt hätte, wäre Frau Buchmann Rentnerin und könnte daran nichts mehr ändern. Gegen den Rentenbescheid könnte sie auch nicht vorgehen, weil sie insoweit rechtlich nicht beschwert wäre.

Das Sozialgericht Düsseldorf glaubt nicht, dass Frau Buchmann Erfolg mit ihrem Widerspruch haben wird

Für das Sozialgericht Düsseldorf hatte Svenja Buchmann allerdings nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass sie auch einen Anspruch auf die Anordnung hat.
In ihrem Auftrag legten das Kolleg*innen unseres Büros in Essen Beschwerde gegen den Gerichtsbeschluss ein. Das Landessozialgericht Essen hat Frau Buschmann jetzt Recht gegeben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet.
Die Anordnung, dass ein Widerspruch aufschiebende Wirkung hat, ist Ergebnis einer Interessenabwägung. Oder wie es auf Juristisch heißt: es geht um eine Abwägung des Vollzugsinteresses mit dem Interesse des Bürgers an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs.

Und insoweit ist ganz erheblich, welche Erfolgsaussichten es in der Hauptsache gibt, weil an der Vollziehung eines offenbar rechtswidrigen Bescheids kein öffentliches Interesse bestehen kann. Die Hauptsache in unserem Fall ist der Widerspruch gegen die Aufforderung, einen Rentenantrag zu stellen. Und hier sieht das LSG gute Chancen.
Das Sozialgericht hatte nämlich einen wesentlichen Gesichtspunkt nicht gesehen: die Entscheidung des Jobcenters, einen Betroffenen aufzufordern, einen Rentenantrag zu stellen, ist eine sogenannte „Ermessensentscheidung“.

Das Jobcenter hatte bei seiner Entscheidung, Frau Buchmann aufzufordern, Rente zu beantragen nicht erkennbar Ermessen ausgeübt

Ermessen bedeutet, dass eine Behörde nicht an eine einzige Möglichkeit für eine Entscheidung gebunden ist, sondern gleichsam unter mehreren möglichen Entscheidungen wählen kann. Hat eine Behörde Ermessen, muss sie dieses aber auch ausüben und darf nicht den Eindruck erwecken, sie habe gar keine Wahl.

Das LSG ist zur Auffassung gelangt, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig sei, weil das Jobcenter kein Ermessen ausgeübt habe. Die insoweit maßgeblichen Gesichtspunkte müssten sich aus der Begründung des Verwaltungsaktes ergeben. Dies erfordere nicht notwendig umfangreiche Ausführungen. Insbesondere wenn keine Abweichungen von einem „Normalfall" vorlägen,  könne auch mit im Allgemeinen gehaltenen Ausführungen wie beispielsweise: ,,man habe vom eingeräumten Ermessen pflichtgemäß Gebrauch gemacht" oder die Entscheidung sei „unter Würdigung Ihrer persönlichen Umstände" ergangen, eine Ermessensentscheidung rechtmäßig ergehen. Es müsse aber mindestens erkennbar sein, dass die Behörde sich der Notwendigkeit, eine Ermessensentscheidung zu treffen, bewusst gewesen sei. Fehle es auch daran, sei die Entscheidung wegen „Ermessensnichtgebrauchs“ rechtswidrig.
 
Hier geht es zum Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen

Rechtliche Grundlagen

§ 5 Sozialgesetzbuch II
Verhältnis zu anderen Leistungen

(1) Auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen Anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen, werden durch dieses Buch nicht berührt. Ermessensleistungen dürfen nicht deshalb versagt werden, weil dieses Buch entsprechende Leistungen vorsieht.
(2) Der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach diesem Buch schließt Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Zwölften Buches aus. Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches sind gegenüber dem Sozialgeld vorrangig.
(3) Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht, können die Leistungsträger nach diesem Buch den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. Der Ablauf von Fristen, die ohne Verschulden der Leistungsträger nach diesem Buch verstrichen sind, wirkt nicht gegen die Leistungsträger nach diesem Buch; dies gilt nicht für Verfahrensfristen, soweit die Leistungsträger nach diesem Buch das Verfahren selbst betreiben. Wird eine Leistung aufgrund eines Antrages nach Satz 1 von einem anderen Träger nach § 66 des Ersten Buches bestandskräftig entzogen oder versagt, sind die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach diesem Buch ganz oder teilweise so lange zu entziehen oder zu versagen, bis die leistungsberechtigte Person ihrer Verpflichtung nach den §§ 60 bis 64 des Ersten Buches gegenüber dem anderen Träger nachgekommen ist. Eine Entziehung oder Versagung nach Satz 3 ist nur möglich, wenn die leistungsberechtigte Person vom zuständigen Leistungsträger nach diesem Buch zuvor schriftlich auf diese Folgen hingewiesen wurde. Wird die Mitwirkung gegenüber dem anderen Träger nachgeholt, ist die Versagung oder Entziehung rückwirkend aufzuheben. Die Sätze 3 bis 5 gelten nicht für die vorzeitige Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters.
(4) Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach dem Ersten Abschnitt des Dritten Kapitels werden nicht an oder für erwerbsfähige Leistungsberechtigte erbracht, die einen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld haben.

§ 12a Sozialgesetzbuch II
Vorrangige Leistungen

Leistungsberechtigte sind verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Abweichend von Satz 1 sind Leistungsberechtigte nicht verpflichtet,
1. bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen oder
2. Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz oder Kinderzuschlag nach dem Bundeskindergeldgesetz in Anspruch zu nehmen, wenn dadurch nicht die Hilfebedürftigkeit aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft für einen zusammenhängenden Zeitraum von mindestens drei Monaten beseitigt würde.


§ 86a Sozialgerichtsgesetz
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung.
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt
1. bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten,
2. in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und der Bundesagentur für Arbeit bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung entziehen oder herabsetzen,
3. für die Anfechtungsklage in Angelegenheiten der Sozialversicherung bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung herabsetzen oder entziehen,
4. in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen,
5. in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 kann die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder die über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. In den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 soll die Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. In den Fällen des Absatzes 2 Nr. 2 ist in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts die nächsthöhere Behörde zuständig, es sei denn, diese ist eine oberste Bundes- oder eine oberste Landesbehörde. Die Entscheidung kann mit Auflagen versehen oder befristet werden. Die Stelle kann die Entscheidung jederzeit ändern oder aufheben.
(4) Die aufschiebende Wirkung entfällt, wenn eine Erlaubnis nach Artikel 1 § 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Februar 1995 (BGBl. I S. 158), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 23. Juli 2001 (BGBl. I S. 1852) geändert worden ist, aufgehoben oder nicht verlängert wird. Absatz 3 gilt entsprechend.

§ 86b Sozialgerichtsgesetz
(1) Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag
1. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen,
2. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen,
3. in den Fällen des § 86a Abs. 3 die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise wiederherstellen.
Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder die Anordnung der sofortigen Vollziehung kann mit Auflagen versehen oder befristet werden. Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag die Maßnahmen jederzeit ändern oder aufheben.
(2) Soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des ersten Rechtszugs und, wenn die Hauptsache im Berufungsverfahren anhängig ist, das Berufungsgericht. Die §§ 920, 921, 923, 926, 928, 929 Absatz 1 und 3, die §§ 930 bis 932, 938, 939 und 945 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend.
(3) Die Anträge nach den Absätzen 1 und 2 sind schon vor Klageerhebung zulässig.
(4) Das Gericht entscheidet durch Beschluss.