Das Jobcenter (Antragsgegner) verpflichtete den Leistungen zur Grundsicherung begehrenden Antragsteller, sich monatlich fünfmal um eine Arbeitsstelle zu bewerben.
Er sollte seine Bemühungen dokumentieren und jeweils zum 3. des Folgemonats nachweisen. Der Antragsteller kam dieser Verpflichtung nicht nach. Er ist der Auffassung, er müsse sich nicht um eine Arbeitsstelle bemühen, weil er das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland ablehne. Das Jobcenter minderte den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für drei Monate um 100 %. Hiergegen legte der Antragsteller Widerspruch ein. Außerdem beantragte er, die aufschiebende Wirkung seines Rechtsbehelfs anzuordnen.

Der Widerspruch blieb erfolglos. Der Antragsteller wandte sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes an das Sozialgericht Aachen. Dieses Gericht entschied zu seinen Ungunsten.

Landessozialgericht erklärt Sanktionsbescheid für rechtmäßig

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen bestätigte den ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts. Das zweitinstanzliche Gericht stellte fest, dass nach der maßgebenden Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtmäßigkeit des Sanktionsbescheides spreche.

Gesetzeswidrige Leistungsgewährung nicht begründbar
In seiner Entscheidung führt das LSG aus, der Antragsteller habe kein berechtigtes Interesse daran, dass die Behörde den Vollzug des Sanktionsbescheides aussetze. Über Geld- und Sachleistungen könne vorläufig nur dann entschieden werden, wenn die Vereinbarkeit einer Vorschrift des SGB II, von der die Entscheidung über den Antrag abhänge, mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht sei.

Landessozialgericht bejaht Verfassungsmäßigkeit der fraglichen Sanktionsregelungen

Das LSG geht davon aus, dass die Sanktionsregelungen des Sozialgesetzbuches II verfassungsgemäß sind. Die Frage, ob dies tatsächlich der Fall ist, prüft derzeit das Bundesverfassungsgericht, Az. 1 BvL 7/16).

Unter Beachtung des § 41a Abs. 7 SGB II lasse sich nach Auffassung des zweitinstanzlichen Gerichts keine gesetzeswidrige Leistungsgewährung begründen. Denn dabei handele es sich lediglich um eine Verfahrensvorschrift. Diese ermächtige nicht dazu, Leistungen zu gewähren, die nach dem geltenden einfachen Recht nicht zustünden.

Im Ergebnis bedeutet diese Entscheidung:

Solange das Bundesverfassungsgericht nicht über die Sanktionspraxis entschieden hat, hält es die nordrhein-westfälischen Sozialgerichtsbarkeit für legitim, 100% ige Sanktionen auszusprechen.

Es ist zu hoffen, dass sich diese Rechtsprechung nicht bundesweit breit macht. Denn es ist unverständlich, wie man eine Leistung, die als Existenzminimum gedacht ist, noch kürzen kann. Die Kürzung des Minimums ist zwar sprachlogisch unmöglich, scheint aber politisch gewollt zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht diesen menschenverachtenden Sanktionsregelungen des Gesetzgebers möglichst bald einen verfassungsrechtlichen Riegel vorschiebt.
Denn wenn es ein Gesetzgeber ermöglicht, ein Existenzminimum, aus welchen Gründen auch immer, für die Dauer von drei Monaten auf Null zu reduzieren, so kann von einer menschenwürdigen Daseinsvorsorge nicht mehr die Rede sein!


Hier geht es zu der Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17.07.2019, Az: L 7 AS 987/19:

Für Interessierte:
"Sozialgericht hält Kürzung von Hartz IV für verfassungswidrig"

Rechtliche Grundlagen

§ 41a Sozialgesetzbuch II - Vorläufige Entscheidung

§ 41a SGB II Vorläufige Entscheidung
(1) Über die Erbringung von Geld- und Sachleistungen ist vorläufig zu entscheiden, wenn
1.
zur Feststellung der Voraussetzungen des Anspruchs auf Geld- und Sachleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist und die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen oder
2.
ein Anspruch auf Geld- und Sachleistungen dem Grunde nach besteht und zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist.
Besteht eine Bedarfsgemeinschaft aus mehreren Personen, ist unter den Voraussetzungen des Satzes 1 über den Leistungsanspruch aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft vorläufig zu entscheiden. Eine vorläufige Entscheidung ergeht nicht, wenn Leistungsberechtigte die Umstände, die einer sofortigen abschließenden Entscheidung entgegenstehen, zu vertreten haben.

(2) Der Grund der Vorläufigkeit ist anzugeben. Die vorläufige Leistung ist so zu bemessen, dass der monatliche Bedarf der Leistungsberechtigten zur Sicherung des Lebensunterhalts gedeckt ist; dabei kann der Absetzbetrag nach § 11b Absatz 1 Satz 1 Nummer 6 ganz oder teilweise unberücksichtigt bleiben. Hierbei sind die im Zeitpunkt der Entscheidung bekannten und prognostizierten Verhältnisse zugrunde zu legen. Soweit die vorläufige Entscheidung nach Absatz 1 rechtswidrig ist, ist sie für die Zukunft zurückzunehmen. § 45 Absatz 2 des Zehnten Buches findet keine Anwendung.

(3) Die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheiden abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch, sofern die vorläufig bewilligte Leistung nicht der abschließend festzustellenden entspricht oder die leistungsberechtigte Person eine abschließende Entscheidung beantragt. Die leistungsberechtigte Person und die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen sind nach Ablauf des Bewilligungszeitraums verpflichtet, die von den Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende zum Erlass einer abschließenden Entscheidung geforderten leistungserheblichen Tatsachen nachzuweisen; die §§ 60, 61, 65 und 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Kommen die leistungsberechtigte Person oder die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen ihrer Nachweis- oder Auskunftspflicht bis zur abschließenden Entscheidung nicht, nicht vollständig oder trotz angemessener Fristsetzung und schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht fristgemäß nach, setzen die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende den Leistungsanspruch für diejenigen Kalendermonate nur in der Höhe abschließend fest, in welcher seine Voraussetzungen ganz oder teilweise nachgewiesen wurden. Für die übrigen Kalendermonate wird festgestellt, dass ein Leistungsanspruch nicht bestand.

(4) Bei der abschließenden Feststellung des Leistungsanspruches nach Absatz 3 ist als Einkommen ein monatliches Durchschnittseinkommen zugrunde zu legen. Satz 1 gilt nicht
1.
in den Fällen des Absatzes 3 Satz 4,
2.
soweit der Leistungsanspruch in mindestens einem Monat des Bewilligungszeitraums durch das zum Zeitpunkt der abschließenden Feststellung nachgewiesene zu berücksichtigende Einkommen entfällt oder
3.
wenn die leistungsberechtigte Person vor der abschließenden Feststellung des Leistungsanspruches eine Entscheidung auf der Grundlage des tatsächlichen monatlichen Einkommens beantragt.
Als monatliches Durchschnittseinkommen ist für jeden Kalendermonat im Bewilligungszeitraum der Teil des Einkommens zu berücksichtigen, der sich bei der Teilung des Gesamteinkommens im Bewilligungszeitraum durch die Anzahl der Monate im Bewilligungszeitraum ergibt.


(5) Ergeht innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung nach Absatz 3, gelten die vorläufig bewilligten Leistungen als abschließend festgesetzt. Dies gilt nicht, wenn
1.
die leistungsberechtigte Person innerhalb der Frist nach Satz 1 eine abschließende Entscheidung beantragt oder
2.
der Leistungsanspruch aus einem anderen als dem nach Absatz 2 Satz 1 anzugebenden Grund nicht oder nur in geringerer Höhe als die vorläufigen Leistungen besteht und der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende über den Leistungsanspruch innerhalb eines Jahres seit Kenntnis von diesen Tatsachen, spätestens aber nach Ablauf von zehn Jahren nach der Bekanntgabe der vorläufigen Entscheidung, abschließend entscheidet.

(6) Die aufgrund der vorläufigen Entscheidung erbrachten Leistungen sind auf die abschließend festgestellten Leistungen anzurechnen. Soweit im Bewilligungszeitraum in einzelnen Kalendermonaten vorläufig zu hohe Leistungen erbracht wurden, sind die sich daraus ergebenden Überzahlungen auf die abschließend bewilligten Leistungen anzurechnen, die für andere Kalendermonate dieses Bewilligungszeitraums nachzuzahlen wären. Überzahlungen, die nach der Anrechnung fortbestehen, sind zu erstatten. Das gilt auch im Fall des Absatzes 3 Satz 3 und 4.

(7) Über die Erbringung von Geld- und Sachleistungen kann vorläufig entschieden werden, wenn
1.
die Vereinbarkeit einer Vorschrift dieses Buches, von der die Entscheidung über den Antrag abhängt, mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Bundesverfassungsgericht oder dem Gerichtshof der Europäischen Union ist oder
2.
eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung Gegenstand eines Verfahrens beim Bundessozialgericht ist.
Absatz 2 Satz 1, Absatz 3 Satz 2 bis 4 sowie Absatz 6 gelten entsprechend.