Das Bundesverfassungsgericht hat Verfassungsbeschwerden gegen die gesetzlichen Regelungen zur Tarifeinheit nicht zur Entscheidung angenommen. Copyright by Adobe Stock/U. J. Alexander
Das Bundesverfassungsgericht hat Verfassungsbeschwerden gegen die gesetzlichen Regelungen zur Tarifeinheit nicht zur Entscheidung angenommen. Copyright by Adobe Stock/U. J. Alexander

 Mit dem Tarifeinheitsgesetz von 2015 hatte der Gesetzgeber in das Tarifvertragsgesetz eine neue Regelung eingeführt. Es wurde geklärt, wie zu verfahren ist, wenn in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften vertreten sind, die sich nicht auf einen gemeinsamen Tarifvertrag einigen können. Zwar können beide Gewerkschaften grundsätzlich unterschiedliche Tarifverträge abschließen. Dort wo sie sich widersprechen gelten allerdings die Regelungen, die die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern vereinbart hat.

 

 

Bundesverfassungsgericht hielt die neue Regelung teilweise nicht für verfassungskonform

Mit einer Entscheidung vom Juli 2017 das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) klargestellt, dass das Tarifeinheitsgesetz insoweit im Wesentlichen nicht verfassungswidrig ist. Der Gesetzgeber musste jedoch in einem Punkt nachbessern: insoweit verfassungswidrig sei, als „ … Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft fehlen.“ Deshalb gibt das Gericht dem Gesetzgeber auf, das Gesetz bis 31. Dezember 2018 zu ändern. Er soll Vorkehrungen treffen, „… die sichern, dass in einem Betrieb die Interessen von Angehörigen kleinerer Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hinreichend berücksichtigt werden.” Wir hatten darüber berichtet:
„Tarifeinheitsgesetz weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar“


Die Interessen aller Arbeitnehmergruppen müssen ernsthaft und wirksam berücksichtigt werden

Der Gesetzgeber verabschiedete daraufhin zum 1. Januar 2019 eine neue Regelung. Die entsprechende Vorschrift (§ 4 a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG) bestimmt jetzt, dass neben dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft in einem Betrieb auch die Rechtsnormen des Minderheitstarifvertrags anwendbar sind , wenn beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die Interessen von Arbeitsnehmergruppen, die von dem Minderheitstarifvertrag erfasst werden, nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt sind.
Drei Gewerkschaften, die sich selbst als Spartengewerkschaften betrachten, haben gegen die Regel Verfassungsbeschwerde erhoben und rügen insbesondere eine Verletzung der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG).

Bundesverfassungsgericht: erst müssen die Fachgerichte angerufen werden

Mit einem Beschluss vom 19. Mai 2020 hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Grund war im Wesentlichen, dass die drei Beschwerdeführer nicht zuvor den Weg zu den Arbeitsgerichten beschritten hatten. Würden die Fachgerichte angerufen, müssten diese klären, ob beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die gesetzlichen Anforderungen erfüllt worden seien, die zu einer Verdrängung von Tarifverträgen führen können.
Die Fachgerichte hätten zu entscheiden, ob alle relevanten Interessen berücksichtigt worden seien. Inwiefern die hier angegriffene Neuregelung dann auf praktische Schwierigkeiten stoße, müsste sich zunächst „vor Ort“ zeigen, bevor das BVerfG die Frage beantworten könne, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar sei.

Die Beschwerdeführer waren gar nicht von der Neuregelung konkret betroffen

Das BVerfG machte allerding gleichwohl einige inhaltliche Ausführungen zur Beschwerde und hat insbesondere zwei Bedenken, ob die Verfassungsbeschwerde begründet ist.
Zum einen bestünden Zweifel, ob die fraglichen „Spartengewerkschaften“ in einer den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes genügenden Weise dargelegt haben, dass sie durch die angegriffene gesetzliche Regelung unmittelbar betroffen seien. Sie hatten nämlich nicht dargelegt, dass von ihnen geschlossene Tarifverträge unanwendbar geworden sind und ihr gewerkschaftliches Handeln unmöglich geworden ist. Es sei nach Auffassung des BVerfG  auch zumindest fraglich, ob die neue Regelung tatsächlich geeignet sei, Gewerkschaften, die in einem Tarifbereich voraussichtlich weniger Mitglieder organisieren als andere, aus dem Tarifgeschehen zu verdrängen.

Die Neuregelung führt gerade dazu, dass der Tarifvertrag von Minderheitsgewerkschaften nicht verdrängt wird

Die angegriffene Regelung führe gerade dazu, dass der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft nicht immer und voraussetzungslos verdrängt werde. Das könne nur geschehen, wenn und soweit die Interessen der Arbeitnehmergruppe der Minderheitsgewerkschaft beim Zustandekommen des von der Mehrheitsgewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrags ernsthaft und wirksam berücksichtigt worden seien. Wo es daran fehle, würde ihr Tarifvertrag auch nicht verdrängt.
Dass BVerfG hatte schließlich Bedenken, ob die Beschwerdeführer hinreichend dargelegt hatten, dass ihre eigenen Rechte verletzt seien. Die allgemeine Rüge, sie seien in ihrem Recht aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt, weil sie zwingend Interessen von Nicht-Mitgliedern zu berücksichtigen hätten, genüge insofern nicht.

Die Beschwerdeführer hatten gar nicht dargelegt, inwieweit ihr r Recht auf Koalitionsfreiheit überhaupt eingeschränkt ist

Die Beschwerdeführer hätten nicht dargelegt, inwieweit tatsächlich ein Zwang bewirkt werde. Wenn sie relevante Interessen nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigen würden, seien nach § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG lediglich auch die Rechtsnormen des Minderheitstarifvertrages anwendbar. Inwieweit dies dazu zwinge, für andere mit zu verhandeln, erschließe sich dem BVerfG nicht. Es sei nicht dargelegt, inwiefern eine solidarische Erwartung, die über die Interessenvertretung der Mitglieder hinausgehe, Gewerkschaften in ihren Rechten aus Art. 9 Abs. 3 GG verletze.
 
Hier geht es zur Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts

Rechtliche Grundlagen

§ 4a Tarifvertragsgesetz
Tarifkollision

(1) Zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrags werden Tarifkollisionen im Betrieb vermieden.
(2) 1Der Arbeitgeber kann nach § 3 an mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden sein. 2Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat (Mehrheitstarifvertrag); wurden beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die Interessen von Arbeitnehmergruppen, die auch von dem nach dem ersten Halbsatz nicht anzuwendenden Tarifvertrag erfasst werden, nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt, sind auch die Rechtsnormen dieses Tarifvertrags anwendbar. 3Kollidieren die Tarifverträge erst zu einem späteren Zeitpunkt, ist dieser für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich. 4Als Betriebe gelten auch ein Betrieb nach § 1 Absatz 1 Satz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes und ein durch Tarifvertrag nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 bis 3 des Betriebsverfassungsgesetzes errichteter Betrieb, es sei denn, dies steht den Zielen des Absatzes 1 offensichtlich entgegen. 5Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Betriebe von Tarifvertragsparteien unterschiedlichen Wirtschaftszweigen oder deren Wertschöpfungsketten zugeordnet worden sind.
(3) Für Rechtsnormen eines Tarifvertrags über eine betriebsverfassungsrechtliche Frage nach § 3 Absatz 1 und § 117 Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes gilt Absatz 2 Satz 2 nur, wenn diese betriebsverfassungsrechtliche Frage bereits durch Tarifvertrag einer anderen Gewerkschaft geregelt ist.
(4) 1Eine Gewerkschaft kann vom Arbeitgeber oder von der Vereinigung der Arbeitgeber die Nachzeichnung der Rechtsnormen eines mit ihrem Tarifvertrag kollidierenden Tarifvertrags verlangen. 2Der Anspruch auf Nachzeichnung beinhaltet den Abschluss eines die Rechtsnormen des kollidierenden Tarifvertrags enthaltenden Tarifvertrags, soweit sich die Geltungsbereiche und Rechtsnormen der Tarifverträge überschneiden. 3Die Rechtsnormen eines nach Satz 1 nachgezeichneten Tarifvertrags gelten unmittelbar und zwingend, soweit der Tarifvertrag der nachzeichnenden Gewerkschaft nach Absatz 2 Satz 2 nicht zur Anwendung kommt.
(5) 1Nimmt ein Arbeitgeber oder eine Vereinigung von Arbeitgebern mit einer Gewerkschaft Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags auf, ist der Arbeitgeber oder die Vereinigung von Arbeitgebern verpflichtet, dies rechtzeitig und in geeigneter Weise bekanntzugeben. 2Eine andere Gewerkschaft, zu deren satzungsgemäßen Aufgaben der Abschluss eines Tarifvertrags nach Satz 1 gehört, ist berechtigt, dem Arbeitgeber oder der Vereinigung von Arbeitgebern ihre Vorstellungen und Forderungen mündlich vorzutragen.
Fußnote
§ 4a Abs. 2 Satz 2: Nach Maßgabe der Entscheidungsformel nicht vereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG gem. BVerfGE v. 11.7.2017 (1 BvR 1571/15 u. a.). Bis zu einer Neuregelung gilt § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes mit der Maßgabe fort, dass ein Tarifvertrag von einem kollidierenden Tarifvertrag nur verdrängt werden kann, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat; idF d. Art. 4f G v. 18.12.2018 I 2651 mWv 1.1.2019
§ 4a: Eingef. durch Art. 1 Nr. 1 G v. 3.7.2015 I 1130 mWv 10.7.2015