Es lief gut beim Bundesarbeitsgericht. Thomas Heller vom Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und Europäisches Recht setzte sich mit seinen Anträgen durch. 30% Nachtarbeitszuschläge erhalten seine Kläger nun, zwei Zusteller aus der Zeitungsbrache. Beide müssen ihre Arbeit in der Nacht bis in die frühen Morgenstunden vor sechs Uhr erledigen. Ihr Arbeitgeber zahlt ihnen dafür nur Zuschläge in Höhe von 10% ihres Entgelts. Ein Tarifvertrag, in dem die Vergütung für Nachtarbeitsstunden geregelt ist, gilt für sie nicht. Auch in ihren Arbeitsverträgen steht nichts über Nachtarbeitszuschläge.
Heller konnte zur Durchsetzung der Ansprüche seiner Mandanten deshalb nur auf das Gesetz zurückgreifen. Danach hat der Arbeitgeber dem*der Nachtarbeitnehmer*in für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag zu gewähren, soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen. Nachtarbeit im Sinne dieses Gesetzes ist jede Arbeit, die mehr als zwei Stunden der Nachtzeit umfasst.
Wann ist ein Zuschlag angemessen?
Bei der Auslegung des Merkmals „angemessen“ sind die Grundrechte zu beachten, so das Bundesarbeitsgericht. Nachtarbeit sei schädlich. Sie habe nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen für jeden Menschen negative gesundheitliche Auswirkungen wie Schlafstörungen, Magen-Darm Beschwerden, aber auch psychische Beeinträchtigungen.
Das Bundesverfassungsgericht habe deshalb den Gesetzgeber für den Bereich der Nachtarbeit verpflichtet, den Schutz der Arbeitnehmer*innen vor den schädlichen Folgen der Nachtarbeit zu regeln. Eine solche Regelung sei notwendig, um insbesondere dem Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Grundgesetz zu genügen.
Der Gesundheit des Einzelnen komme in der Wertordnung des Grundgesetzes ein hohes Gewicht zu. Art. 2 Grundgesetz verpflichte den Staat, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter „Leben“ und „körperliche Unversehrtheit“ zu stellen. Schutz vor schädlichen Folgen der Nacht- und Schichtarbeit erhielten Arbeitnehmer*innen durch das Arbeitszeitgesetz.
Das Bundesarbeitsgericht habe in ständiger Rechtsprechung einen Zuschlag in Höhe von 25 % oder die Gewährung einer entsprechenden Zahl von bezahlten freien Tagen als einen angemessenen Ausgleich für geleistete Nachtarbeit festgelegt.
Darf es auch weniger sein?
Ja, unter bestimmten Voraussetzungen kann auch ein geringerer als der regelmäßig angemessene Ausgleich den gesetzlichen Anforderungen genügen, wenn nämlich die Nachtarbeit aus zwingenden technischen Gründen oder aus zwingend mit der Art der Tätigkeit verbundenen Gründen unvermeidbar ist. Dabei fordert das Bundesarbeitsgericht überragend wichtige Gründe des Gemeinwohls, die die Nachtarbeit zwingend erfordern, wie beispielsweise im Rettungswesen.
Gleiches gelte, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit im Vergleich zu der üblichen Situation geringer ist, so das Bundesarbeitsgericht. Das könne bei nächtlicher Bereitschaftszeit gegeben sein. Diese sei auch in ihren inaktiven Teilen arbeitsschutzrechtlich Arbeitszeit und keine Ruhezeit. Der Arbeitgeber müsste dafür Ausgleich zahlen. In inaktiven Zeiten der Entspannung gebe es aber eine geringere Arbeitsbelastung. Deshalb sei es gerechtfertigt, hier einen geringeren Zuschlag als 25 % zu zahlen.
30% - geht das auch?
Ja, eine Erhöhung des Regelwertes auf 30 % kommt nach den Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts in Betracht, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen Gesichtspunkten, also der Art der Tätigkeit, oder unter quantitativen Gesichtspunkten, wie dem Umfang der Nachtarbeit, die gewöhnlich mit der Nachtarbeit verbundene Belastung übersteigt. Dies sei bei Arbeit in Dauernachtschicht gegeben.
Die allgemeinen Grundsätze zu einer angemessenen Höhe der Zuschläge müsse jedoch die Grundrechte des Arbeitgebers berücksichtigen. Dies gelte insbesondere für dessen Berufsfreiheit (Art. 12 Grundgesetz) und dessen Eigentumsgarantie (Art. 14 Grundgesetz). Aber auch die allgemeine Pressefreiheit (Art. 5 Grundgesetz) könne Bedeutung erlangen.
Wie weit reicht die Berufsfreiheit des Arbeitgebers?
Die Berufsfreiheit der Arbeitgeber aus Art. 12 Grundgesetz sei mit dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer*innen aus Art. 2 Grundgesetz in Ausgleich zu bringen. Die Berufsfreiheit gewähre allen Deutschen das Recht, den Beruf frei zu wählen und frei auszuüben. Sie umfasse jede auf Dauerangelegte Tätigkeit, die der Schaffung sowie Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage diene.
Ein Zuschlag von bis zu 30 % oder eine entsprechende Zahl freier Tage betreffe grundsätzlich alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, die zur Nachtzeit ausgeübt würden. Ein Eingriff in Art. 12 Grundgesetz resultiere daraus jedoch nicht. Die Berufsfreiheit des Arbeitgebers sei nur in geringem Maße betroffen. Dem stünden gewichtige Interessen des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer*innen gegenüber.
Der Nachtarbeitszuschlag in Höhe von bis zu 30 % solle den Anreiz zur Anordnung der besonders gesundheitsschädlichen Nachtarbeit vermindern. Die Förderung des Gesundheitsschutzes stelle ein überragend wichtiges Gemeinwohlziel von Verfassungsrang dar. In der Wertordnung des Grundgesetzes komme ihr ein hohes Gewicht zu. Daher dürfe ihr Schutz auch mit Mitteln angestrebt werden, die das Grundrecht der Berufsfreiheit empfindlich betreffen.
Warum legt das Gesetz keine Zuschlagshöhe fest?
Die Interessen der Arbeitgeber fänden Berücksichtigung in der Höhe der Zuschläge, indem nicht ein festgelegter Zuschlag als angemessen angesehen werde, so das Bundesarbeitsgericht. Die Höhe des angemessenen Zuschlages richte sich nach der Gegenleistung, für die sie bestimmt sei.
Dabei müsse der Arbeitgeber die Art und den Umfang der zur Nachtzeit ausgeübten Tätigkeit und die damit verbundenen Belastungen für die Nachtarbeitnehmer*innen berücksichtigen.
Wie sieht es mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz aus?
Bloße Umsatz- und Gewinnchancen oder tatsächliche Gegebenheiten würden unter dem Gesichtspunkt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht von der Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz umfasst, heißt es im Urteil weiter.
Gerichte hätten bei der Beurteilung des Begriffs „angemessen" gewisse Spielräume. Daher sei es möglich, dass verschiedene Landesarbeitsgerichte bei vergleichbaren Sachverhalten unterschiedliche Zuschlagshöhen für zulässig erachteten. Hier hätten die Kläger in Dauernachtschicht gearbeitet. Eine Verringerung angemessenen Zuschlages für Dauernachtschicht hätten die Vorinstanzen zu Recht nicht in Betracht gezogen.
Wovon hängt die Angemessenheit eines Nachtzuschlages ab?
Die Höhe des Zuschlages richte sich nach der Gegenleistung, für die sie bestimmt ist. Ob ein Ausgleich angemessen ist, hänge nicht davon ab, ob die Nachtarbeit in Vollzeit oder Teilzeit ausgeführt werde. Maßgebliches Kriterium sei nur, dass die Arbeit mehr als 2 Stunden der Nachtzeit umfasse. Es spiele auch keine Rolle, ob Betroffene während der gesamten Nachtzeit gearbeitet hätten.
Die besondere Belastung durch Dauernachtarbeit ergebe sich daraus, dass die Nachtarbeit über lange Zeiträume hinweg in Anspruch genommen werde. Allerdings rechtfertige das allein nicht, anzunehmen, dass der für Dauernachtarbeit regelmäßig angemessene Nachtarbeitszuschlag unter keinen Umständen unterschritten werden dürfe. Es müsse bei einer Abwägung der beiderseitigen Interessen bleiben.
Welche Bedeutung hat dabei die Pressefreiheit?
Während des Verfahrens berief sich das Zeitungsunternehmen auf die Pressefreiheit (Art. 5 Grundgesetz). Die Pressefreiheit führe nicht dazu, die Zuschläge abzusenken, entschied das Bundesarbeitsgericht.
Freie Medien würden durch Information und Kritik zur freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung beitragen. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit des Art. 5 Grundgesetz sichere die Voraussetzungen und Hilfstätigkeiten für die Herstellung und Aufrechterhaltung dieses Grundrechts. Davon umfasst sei auch die Freiheit der Herstellung und Verbreitung von Druckerzeugnissen.
Der durch die Pressefreiheit vermittelte Schutz der Arbeitgeber sei daher mit dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer*innen aus Art. 2 Grundgesetz abzuwägen. Den Grundrechten des Art. 5 Grundgesetz komme ein hoher Rang zu.
Was ist, wenn Zeitungen durch erhöhte Zuschläge teurer werden?
Die Grundrechte aus Art. 5 Grundgesetz schützten nur vor einer nicht wertneutralen Einflussnahme auf den Inhalt des Medienprodukts oder auf dessen Verbreitung. Nachteilige Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen genügten nicht. Selbst wenn die Zahlung eines höheren Zuschlages zur Verteuerung des Produktes führe, könne das Grundrecht der Medienfreiheit nicht davor schützen, dass sich bestimmte Vertriebsformen auf längere Sicht als wirtschaftlich unrentabel erwiesen.
Auch hier gelte, dass der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer*innen aus Art. 2 Grundgesetz Vorrang habe.
Der Arbeitgeber kündigte im Gerichtstermin bereits an, Verfassungsbeschwerde einlegen zu wollen.
Hier geht es zu den Urteilen des Bundesarbeitsgerichts BAG 10 AZR 258/20 und BAG 10 AZR 277/20
Rechtliche Grundlagen
§ 6 V Arbeitszeitgesetz; § 2 III Arbeitszeitgesetz
(1) Arbeitszeit im Sinne dieses Gesetzes ist die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen; Arbeitszeiten bei mehreren Arbeitgebern sind zusammenzurechnen. Im Bergbau unter Tage zählen die Ruhepausen zur Arbeitszeit.
(2) Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes sind Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten.
(3) Nachtzeit im Sinne dieses Gesetzes ist die Zeit von 23 bis 6 Uhr, in Bäckereien und Konditoreien die Zeit von 22 bis 5 Uhr.
(4) Nachtarbeit im Sinne dieses Gesetzes ist jede Arbeit, die mehr als zwei Stunden der Nachtzeit umfasst.
(5) Nachtarbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes sind Arbeitnehmer, die
1. auf Grund ihrer Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht zu leisten haben oder
2. Nachtarbeit an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leisten.
§ 6 Nacht- und Schichtarbeit
(1) Die Arbeitszeit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer ist nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit festzulegen.
(2) Die werktägliche Arbeitszeit der Nachtarbeitnehmer darf acht Stunden nicht überschreiten. Sie kann auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn abweichend von § 3 innerhalb von einem Kalendermonat oder innerhalb von vier Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Für Zeiträume, in denen Nachtarbeitnehmer im Sinne des § 2 Abs. 5 Nr. 2 nicht zur Nachtarbeit herangezogen werden, findet § 3 Satz 2 Anwendung.
(3) Nachtarbeitnehmer sind berechtigt, sich vor Beginn der Beschäftigung und danach in regelmäßigen Zeitabständen von nicht weniger als drei Jahren arbeitsmedizinisch untersuchen zu lassen. Nach Vollendung des 50. Lebensjahres steht Nachtarbeitnehmern dieses Recht in Zeitabständen von einem Jahr zu. Die Kosten der Untersuchungen hat der Arbeitgeber zu tragen, sofern er die Untersuchungen den Nachtarbeitnehmern nicht kostenlos durch einen Betriebsarzt oder einen überbetrieblichen Dienst von Betriebsärzten anbietet.
(4) Der Arbeitgeber hat den Nachtarbeitnehmer auf dessen Verlangen auf einen für ihn geeigneten Tagesarbeitsplatz umzusetzen, wenn
a) nach arbeitsmedizinischer Feststellung die weitere Verrichtung von Nachtarbeit den Arbeitnehmer in seiner Gesundheit gefährdet oder
b) im Haushalt des Arbeitnehmers ein Kind unter zwölf Jahren lebt, das nicht von einer anderen im Haushalt lebenden Person betreut werden kann, oder
c) der Arbeitnehmer einen schwerpflegebedürftigen Angehörigen zu versorgen hat, der nicht von einem anderen im Haushalt lebenden Angehörigen versorgt werden kann,
sofern dem nicht dringende betriebliche Erfordernisse entgegenstehen. Stehen der Umsetzung des Nachtarbeitnehmers auf einen für ihn geeigneten Tagesarbeitsplatz nach Auffassung des Arbeitgebers dringende betriebliche Erfordernisse entgegen, so ist der Betriebs- oder Personalrat zu hören. Der Betriebs- oder Personalrat kann dem Arbeitgeber Vorschläge für eine Umsetzung unterbreiten.
(5) Soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, hat der Arbeitgeber dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren.