So oder so ähnlich ist es in vielen Tarifverträgen zu lesen:
„Zusätzlich zum Bruttojahresentgelt wird ein Weihnachtsgeld bzw. eine Jahressonderzahlung gezahlt.“
So steht es auch im Manteltarifvertrag für Geld- und Wertdienste in der Bundesrepublik Deutschland. Dort heißt es dann ergänzend für die Tarifregion Bayern:
1. Die Arbeitnehmer erhalten
a) nach einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit von fünf Jahren 20 %
b) nach einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit von acht Jahren 30%
c) nach einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit von zehn Jahren 40%
des tariflichen Monatsgrundlohns als Jahressonderzahlung mit der Oktoberrechnung.
(…) Berechnungsbasis ist der tarifliche Grundlohn für den Kalendermonat Oktober. Dies gilt auch dann, wenn für den Arbeitnehmer z. B. wegen Erkrankung kein tatsächlicher Lohnanspruch bestand.
2. Maßgebend für die prozentuale Höhe der Jahressonderzahlung ist die Vollendung der Betriebszugehörigkeit am Stichtag 31.10. eines Kalenderjahres.
Der Kläger erkrankte im Januar 2022. Im Oktober 2022 bezog er weder Entgelt noch Entgeltfortzahlung. Der Arbeitgeber zahlte daraufhin auch keine Jahressonderzahlung.
Es ging um über 1.000 €
Mit Unterstützung seiner Gewerkschaft ver.di machte der Betroffene seine Ansprüche auf die Jahressonderzahlung geltend. Vanessa Mahler vom DGB Rechtsschutzbüro Würzburg klagte die Forderung nach Ablauf der dem Arbeitgeber gesetzten Frist ein – und das mit vollem Erfolg.
Die Beklagte vertrat im Verfahren die Auffassung, der Anspruch auf die Sonderzahlung folge dem regulären Entgeltanspruch und sei daher nicht anzunehmen, wenn im Monat Oktober weder ein Anspruch auf Entgelt noch auf Entgeltfortzahlung bestehe. Der Manteltarifvertrag enthalte für die Tarifregion Bayern nur eine zusätzliche Klarstellung. Da der Kläger im Monat Oktober 2022 Krankengeld bezogen habe, entfalle sein Anspruch auf die Jahressonderzahlung.
Das Arbeitsgericht legte den Tarifvertrag aus
Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt.
Speziell bei der Auslegung von Jahressonderzahlungen sei zu berücksichtigen, dass sich aus der zugrunde liegenden Regelung deutlich ergeben müsse, wenn der Arbeitgeber andere Zwecke als die Vergütung der Arbeitsleistung verfolge, so das Arbeitsgericht Würzburg.
So könnten Sonderzahlungen als Treueprämie erwiesene oder als „Halteprämie" künftige Betriebstreue honorieren; es könne aber auch der Zweck verfolgt werden, sich an den zum Weihnachtsfest typischerweise erhöhten Aufwendungen der Arbeitnehmer:innen zu beteiligen.
Stichtagsregelung sprich für Honorierung der Betriebstreue
Sei die Honorierung künftiger Betriebstreue bezweckt, werde dies regelmäßig dadurch sichergestellt, dass die Sonderzuwendung nur bei Fortbestand des Arbeitsverhältnisses über einen Stichtag hinaus bis zum Ende eines noch zumutbaren Bindungszeitraums gezahlt werde oder die Sonderzuwendung zurückzuzahlen sei, wenn das Arbeitsverhältnis vor Ablauf zumutbarer Bindungsfristen ende.
Bezwecke der Tarifvertrag die Honorierung erwiesener Betriebstreue, werde dies beispielsweise regelmäßig dadurch sichergestellt, dass die Zahlung der Sonderzuwendung vom (ungekündigten) Bestand des Arbeitsverhältnisses am Auszahlungstag abhänge. Ein weiteres Merkmal derartiger Zahlungen bestehe darin, dass sie nicht an eine bestimmte Arbeitsleistung, sondern regelmäßig nur an den Bestand des Arbeitsverhältnisses geknüpft seien.
Der Tarifvertrag knüpft an den Bestand des Arbeitsverhältnisses an
Diesen Grundsätzen folgend sei der streitige Tarifvertrag dahin zu verstehen, dass einzige Anspruchsvoraussetzung neben dem Erreichen einer ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit von mindestens fünf Jahren das ungekündigte Bestehen eines Arbeitsverhältnisses sei und nicht die tatsächliche Arbeitsleistung in dem jeweiligen Kalenderjahr.
Für die Ansicht der Beklagten spreche lediglich der Eingangssatz der tariflichen Vorschrift, wonach das Weihnachtsgeld bzw. die Jahressonderzahlung „zusätzlich zum Bruttojahresentgelt" gezahlt werde, d. h. auf den ersten Blick die eine vom anderen abhänge. Diese Sichtweise sei jedoch nicht überzeugend, da mit dieser Formulierung auch lediglich klargestellt werden könne, dass es um eine echte Zusatzleistung gehe.
Auf die Betriebstreue in der Zukunft kommt es auch an
Im Übrigen verkenne diese Auffassung, dass die Leistung einerseits ausdrücklich von der erwiesenen Betriebstreue abhängig gemacht werde und andererseits auch von der zukünftigen Betriebstreue abhänge. Es gehe mithin nicht um eine im gegenseitigen Austauschverhältnis zur Arbeitsleistung stehende Leistung des Arbeitgebers, sondern in erster Linie um die Honorierung von Betriebstreue.
Die Jahressonderzahlung teile damit nicht das Schicksal des Entgeltanspruchs und entfalle auch nicht für Zeiten eines Kalenderjahres, in denen kein Entgeltanspruch bestand.
Der letzte Satz des streitigen Tarifvertrages für die Tarifregion Bayern stelle dies im Übrigen auch ausdrücklich klar. „Dies gilt auch dann, wenn für den Arbeitnehmer z. B. wegen Erkrankung kein tatsächlicher Lohnanspruch bestand“ bedeute nämlich entgegen der Meinung der Beklagten nicht, dass nur der Bezug einer Entgeltfortzahlung unschädlich sei. Würde man diesen Gedanken zu Ende führen, hieße das nämlich, dass ein Anspruch auch dann entfalle, wenn vor dem 01.10. eines Jahres sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit bestanden habe und (nur) im Oktober Krankengeld gezahlt worden sei, obwohl für den Rest des Jahres Arbeitsfähigkeit vorlag.
Der Tarifvertag muss Arbeitnehmer:innen gleich behandeln
Dieses von der Beklagten dargelegte, willkürliche Ergebnis dürfte mit dem Tarifvertrag und dem Erfordernis der Gleichbehandlung der Tarifunterworfenen nicht zu vereinbaren sein, so das Gericht. Das zeige sich auch daran, dass der Anspruch eben nicht an die Arbeitsleistung anknüpfe, sondern an das Bestehen eines ungekündigten Arbeitsverhältnisses und die Betriebstreue.
Das Arbeitsgericht ließ die Berufung zum Landesarbeitsgericht Nürnberg zu. Grund dafür war, dass es im Verfahren um die Auslegung eines Tarifvertrages geht, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk des Arbeitsgerichts hinausgeht. Das Arbeitsgerichtsgesetz lässt für solche Rechtsstreitigkeiten grundsätzlich die Berufung zu.