Anspruch auf Bildungszeit erfolgreich durchgesetzt!
Anspruch auf Bildungszeit erfolgreich durchgesetzt!



Die Schulung fand vom 12. bis 16. Dezember 2016 statt. Im Gütetermin vor dem Arbeitsgericht am 07.12.2016 einigten sich die Parteien darauf, dass der Kollege zur Schulung fährt. Die ausfallende Arbeitszeit zog der Arbeitgeber vorläufig vom Guthaben des Kollegen auf dessen Arbeitszeitkonto ab. Nach dem Seminar sollte das Arbeitsgericht nach dem Willen beider Parteien klären, ob der Arbeitgeber die abgezogenen Stunden wieder auf dem Guthaben gutschreiben muss.
 

Anspruch auf Freistellung und Vergütung

 
Am 17.03.2015 ist das Bildungszeitgesetz Baden-Württemberg in Kraft getreten. Danach haben Beschäftigte in Baden-Württemberg einen Anspruch auf bis zu fünf Tage Bildungszeit innerhalb eines Kalenderjahres. Während dieser Zeit muss der Arbeitgeber die Beschäftigten unter bestimmten Voraussetzungen von der Arbeit freistellen und die Vergütung weiter bezahlen.
 

Voraussetzungen des Anspruchs auf Freistellung und Vergütung

 
Ein Anspruch auf Freistellung und Vergütung setzt unter anderem voraus, dass


  • das Beschäftigungsverhältnis zwölf Monate besteht,
  • eine anerkannte Bildungseinrichtung die Schulung durchführt
  • die tägliche Unterrichtszeit während der Veranstaltung mindestens sechs Stunden     beträgt,
  • die Teilnahme nicht von der Mitgliedschaft zu einer Partei, Gewerkschaft oder Religionsgemeinschaft abhängt,
  • die Arbeitnehmer*innen ihren Anspruch spätestens acht Wochen vor Beginn der Bildungsmaßnahme schriftlich geltend machen und
  • die Maßnahme der beruflichen oder politischen Weiterbildung oder der Qualifizierung für ehrenamtliche Tätigkeiten dient.

 
Streitig war im Falle des Kollegen allein, ob das von ihm besuchte Seminar der politischen Weiterbildung diente.
 

Inhalte des Seminars der IG Metall

 
Das Seminar mit dem Titel „Aktiv im Betrieb“ hatte folgende Inhalte:


  • Mitwirkungsmöglichkeiten von Arbeitnehmer*innen sowie ihre  Interessenvertretung
  • Beteiligungsmöglichkeiten der Beschäftigten in der Betriebsversammlung
  • Erkennen betrieblicher und gesellschaftlicher Regelungsebenen für gute Arbeit im Betrieb
  • Gesellschaftspolitische Bedeutung der betrieblichen Beteiligung von Beschäftigten und ihren Interessenvertreter*innen
  • Aktive Beteiligung in Betrieb und Gesellschaft.

 

Argumentation des Arbeitgebers

 
Der Arbeitgeber stellte darauf ab, dass der Inhalt eines Seminars lediglich dann unter „politische Weiterbildung“ im Sinne des Bildungszeitgesetzes Baden-Württemberg falle, wenn es ausschließlich um Informationen über staatsbürgerliche Rechte und Pflichten gehe.
Außerdem war er der Ansicht, die Teilnahme an der konkreten Schulung sei davon abhängig, dass die Teilnehmer*innen Mitglied einer Gewerkschaft seien.
 

Entscheidung des Arbeitsgerichts

 
Das Arbeitsgericht Stuttgart ließ keines der Arbeitgeberargumente gelten.
 

Inhalt von politischer Weiterbildung

 
Schon der Wortlaut der anzuwendenden Vorschrift des Bildungszeitgesetzes Baden-Württemberg spreche nicht für eine Einschränkung der politischen Weiterbildung auf die Vermittlung von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten.
Weiter ergebe sich aus der offiziellen Begründung des (Landes-)Gesetzgebers für das Bildungszeitgesetz, dass
 
„ … es in einem funktionierenden demokratischen Gemeinwesen … auch um die gesellschaftliche Teilhabe und damit um die politische Bildung …“
 
geht. Politische Weiterbildung dient also dazu,
 
„ … die Befähigung zur Teilhabe und Mitwirkung am politischen Leben …“
 
zu fördern. Unter politische Weiterbildung fällt deshalb neben der Vermittlung von staatsbürgerlichen Kenntnissen
 
„ … auch die Teilnahme an Tagungen, Lehrgängen und Veranstaltungen, … an denen ein öffentliches Interesse besteht.“
 
Ein solches öffentliches Interesse an einer möglichst umfassenden politischen Bildung ergibt sich nach Auffassung des Arbeitsgerichts Stuttgart aus
 
„… der technologischen Entwicklung, dem strukturellen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft und den demographischen Veränderungen …“
 
Vor diesem Hintergrund stellt auch das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss vom 15.12.1987 zum Hessischen Bildungsurlaubsgesetz fest:
 
„Es liegt daher im Gemeinwohl, neben dem erforderlichen Sachwissen für die Berufsausübung auch das Verständnis der Arbeitnehmer für gesellschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge zu verbessern, um damit die in einem demokratischen Gemeinwesen anzustrebende Mitsprache und Mitverantwortung in Staat, Gesellschaft und Beruf zu fördern.“
 
Damit scheidet jede Möglichkeit aus, die politische Weiterbildung im Sinne des Bildungszeitgesetzes Baden-Württemberg  allein auf die Vermittlung von staatsbürgerlichen Kenntnissen zu reduzieren. Die Inhalte des Seminars, das der klagende Kollege besucht hat, dienten deshalb unzweifelhaft seiner politischen Weiterbildung.
 
Das Arbeitsgericht Stuttgart hat den Arbeitgeber folgerichtig dazu verurteilt, dem Kollegen die zunächst vom Zeitkonto abgezogenen Arbeitsstunden wieder gutzuschreiben.
 

Teilnahmevoraussetzung „Gewerkschaftsmitglied“

 
Richtig ist zwar, dass das Bildungszentrum Lohr der IG Metall Veranstalter des Seminares war. Das ist aber unschädlich, weil sich die Ausschreibung der Veranstaltung ausdrücklich auch an „interessierte Arbeitnehmer(innen)“ wandte.
Außerdem ist das gesamte Programm des Bildungszentrums der IG Metall auf der Internetseite der Gewerkschaft zu finden. Damit können auch gewerkschaftlich nicht Organisierte problemlos vom Programm Kenntnis nehmen. Die Schulungsteilnahme war also keineswegs nur für Gewerkschaftsmitglieder möglich.
 

Ausblick

 
Das Arbeitsgericht geht davon aus, dass der von ihm entschiedene Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung hat. Deshalb hat es die Berufung gegen sein Urteil ausdrücklich zugelassen.
 
Es ist davon auszugehen, dass die Arbeitgeberseite zumindest eine Entscheidung das Landesarbeitsgerichts herbeiführen will.
 
Hier finden Sie Informationen zum Bildungsgesetz Baden-Württemberg


Links:


Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 07.04.2017

Beschluss des Bundesverfassungsgericht vom 15.12.1987