Diverse Tarifverträge aus der Lebensmittelindustrie, geschlossen zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und regionalen sowie bundesweiten Arbeitgeberverbänden, regeln Zuschläge für die Arbeit in der Nacht. Im Fokus stehen seit einiger Zeit Tarifverträge aus den Branchen Getränke und Süßwaren. Denn die Zuschläge gibt es nach den Regelungen verschiedener Manteltarifverträge nicht für alle Beschäftigten in gleicher Höhe.
Die Beklagten: Carlsberg Brauerei und Coca-Cola
Konkret schaute sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) diese Manteltarifverträge (MTV) an:
- MTV für Arbeitnehmer*innen in den Brauereien in Hamburg und Schleswig-Holstein
- MTV der Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost e. V.
In den Verfahren aus dem Norden hatten das Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht Hamburg die Klagen auf höhere Nachtzuschläge abgewiesen.
In dem Verfahren aus dem Osten wurde die Klage in erster Instanz ebenfalls abgewiesen. Hier war die Berufung erfolgreich, und es galt nun, die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg zu verteidigen.
Zu Urteilen kam es nur in den Verfahren gegen die Hamburger Brauerei
Dieser MTV regelt für Arbeit in der Nachtschicht von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr einen Zuschlag von 25 %. Fällt in demselben Zeitraum Nachtarbeit an, die außerhalb eines Schichtsystems erbracht wird, gibt es einen Zuschlag von 50 %.
Die beklagte Brauerei meint, der höhere Zuschlag rechtfertige sich dadurch, dass die Beschäftigten unvorbereitet in der Nacht arbeiten müssten. Dies sei eine besondere Belastung.
Die Kläger, die im Schichtsystem in der Nacht arbeiten, verlangen den höheren Zuschlag von 50 %. Von regelmäßiger Nachtschichtarbeit gingen erheblich gravierendere Gesundheitsgefahren aus als von gelegentlich geleisteter Nachtarbeit. Den Zuschlag für Nachtschichtarbeit zu halbieren, widerspreche gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnissen.
Anders als die Vorinstanzen teilte das BAG die Ansicht der Arbeitnehmerseite. Die Revision war erfolgreich.
Nachtarbeitnehmer und Nachtschichtarbeitnehmer sind vergleichbar
Beide Gruppen werden aber nach dem MTV unterschiedlich behandelt. Diese Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt, urteilte das BAG.
Der höhere Zuschlag könne gar nicht dem Zweck dienen, eine besondere Belastung auszugleichen, wenn Arbeitnehmer*innen unvorbereitet in der Nacht arbeiten müssten. Denn nach dem MTV ist bei der Durchführung von Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen auf private und kulturelle Wünsche der Beschäftigten Rücksicht zu nehmen.
Für eine Gleichbehandlung muss eine Anpassung nach oben erfolgen
Das heißt, auch für Nachtarbeit im Schichtsystem ist der Zuschlag von 50 % zu zahlen.
Das BAG ließ dabei keinen Zweifel daran, dass es die Anpassung nach oben unabhängig von den tatsächlichen Verhältnissen in dem jeweiligen Betrieb für geboten hält. Das ein oder andere Landesarbeitsgericht hatte eine Auskunft der Tarifvertragsparteien erwogen oder eine Aussetzung, um den Tarifvertragsparteien Gelegenheit zu geben, die Ungleichheit zu beseitigen.
Gibt es andere sachliche Gründe für die Differenzierung der Nachtarbeitszuschläge?
Während eine bessere oder schlechtere Planbarkeit in den Verfahren gegen die Carlsberg Brauerei keine Rolle spielte, sah das in den Verfahren gegen Coca-Cola anders aus.
Der MTV Erfrischungsgetränke regelt für regelmäßige Nachtarbeit einen Zuschlag von 20 % und für unregelmäßige Nachtarbeit einen Zuschlag von 50 %. Auch hier hat sich die Arbeitgeberseite auf eine besondere Belastung berufen, wenn die Beschäftigten unvorbereitet in der Nacht arbeiten müssten. Eine Regelung wie in dem MTV Brauereien, wonach bei der Durchführung von Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen auf private und kulturelle Wünsche der Beschäftigten Rücksicht zu nehmen ist, gibt es im MTV Erfrischungsgetränke nicht.
Vorlage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH)
Deshalb entschied das BAG, dass es die Frage nicht beantworten könne, ob auch hier die unterschiedliche Höhe der Nachtarbeitszuschläge ungerechtfertigt sei. Es hat die Verfahren ausgesetzt und dem EuGH vorgelegt.
Der EuGH muss nun als erstes entscheiden, ob tarifvertragliche Regelungen die Europäische Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung) durchführen, wenn sie unterschiedlich hohe Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit enthalten.
Bejaht der EuGH dies, hat er die Frage zu beantworten, ob eine solche tarifliche Regelung gleichbehandlungswidrig nach Art. 20 der Charta der Grundrechte ist, wenn damit neben den gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch Nachtarbeit auch Belastungen wegen der schlechteren Planbarkeit der Arbeitszeit ausgeglichen werden sollen.
Es geht darum, ob überhaupt andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen können, um zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit zu differenzieren.
LINKS:
Hier geht es zu den Pressemitteilungen des Bundesarbeitsgerichts:
Pressemitteilung Nr. 47/20 Halbierter Nachtarbeitszuschlag für Schichtarbeit
Bundesarbeitsgericht
Lesen Sie auch:
Arbeitsgericht Berlin: Nachtzuschläge in unterschiedlicher Höhe sind gerechtfertigt - DGB Rechtsschutz GmbH
Das sagen wir dazu:
Insgesamt ein erfreulicher Verhandlungstag, sagt Angelika Kapeller vom Gewerkschaftlichen Centrum in Kassel. Sie und ihr Kollege Karsten Jessolat haben die Kläger*innen beim BAG vertreten. Erfreulich war der Tag vor allem, weil die in zweiter Instanz weitgehend negativen Entscheidungen "gedreht wurden".
Prognose für die anderen Verfahren?Eine bittere Pille gab es aber doch zu schlucken.
Nach der Verkündung des Urteils ließ die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht Gallner Fragen zu. Angelika Kapeller nutzte diese Möglichkeit und erkundigte sich nach der Prognose für die vielen weiteren Verfahren. Sie erhielt die Antwort, dass jeder einzelne Tarifvertrag zu prüfen sein wird.
Es ist also nicht auszuschließen, dass die rechtliche Einschätzung des BAG je nach tariflicher Regelung der Nachtzuschläge auch mal eine andere sein kann. Das kann der Fall sein, wenn ein MTV andere sachliche Gründe nennt, um die schlechtere Behandlung der Nachtschichtarbeitnehmer*innen zu rechtfertigen. Dem MTV Brauereien ließen sich nach dem BAG solche anderen Gründe nicht entnehmen. Bei dem MTV Erfrischungsgetränkeindustrie sei der Aspekt der Planbarkeit in der Regelung enthalten. Deshalb wurde der EuGH angerufen.
Entscheidung zum Nachtzuschlag in der Süßwarenindustrie steht noch aus
Sollte der EuGH aber sagen, dass eine Ungleichbehandlung auch nicht zu rechtfertigen sei, wenn mit dem höheren Zuschlag Belastungen wegen der schlechteren Planbarkeit der Arbeitszeit ausgeglichen werden sollten, wird das Ergebnis in allen Fällen positiv für die zahlreichen Kläger*innen sein.
Das betrifft nicht nur die Tarifverträge der Getränkeindustrie, sondern vor allem auch den bundesweit geltenden Manteltarifvertrag der Süßwarenindustrie.
Über den DGB Rechtsschutz sind um die 5.000 Verfahren anhängig, davon aktuell etwa 200 beim BAG.
Der Schuss ging nach hinten los
Ein Punkt, den die Vertreter der Arbeitgeber in diesen Verfahren immer anbringen, ist die Tarifautonomie. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände dürfen ihre Vereinbarungen als freie Vertragspartner treffen. Diese Tarifautonomie werde verletzt, wenn Gerichte Regelungen in Tarifverträgen quasi ändern würden.
Allerdings hatte Coca-Cola vorgetragen, dass die Tarifvertragsparteien nicht zueinandergekommen sind. Dann kann aber auch kein Eingriff in die Tarifautonomie vorliegen.
Was für die anderen Verfahren noch interessant ist
Beantragt waren nicht nur Nachzahlungen der höheren Zuschläge, sondern ebenso – kurz gefasst - festzustellen, dass die Beklagten den Zuschlag von 50 % auch für die Nachtschicht zu zahlen hat.
Der Feststellungsantrag ist nach dem BAG zulässig. Das gelte unabhängig von den betrieblichen Gegebenheiten, also ob es überhaupt Mitarbeiter gibt, die außerhalb des Schichtsystems in der Nacht arbeiten. Es ist ein zusätzlicher Erfolg, dass dieser Antrag durchgegangen ist. Denn anders als die Zahlungsanträge wirkt er für die Zukunft.
Mehrarbeitszuschläge spielen für die rechtliche Diskussion nach dem BAG keine Rolle. Die Arbeitgeber argumentieren auch damit, die höheren Zuschläge umfassten gleichzeitig Zuschläge für Mehrarbeit. Das kann dann wohl ebenfalls kein sachlicher Grund für die Differenzierung der Nachtarbeitszuschläge sein.
Auch zusätzliche Pausen für alle Schichtarbeiter sind ohne Belang für den Rechtsstreit über unterschiedlich hohe Zuschläge für regelmäßige oder unregelmäßige Arbeit in der Nacht. Ob auch zusätzliche Freischichten keine Rolle spielen, ist noch offen.
Bisher liegen nur die Pressemitteilungen des Bundesarbeitsgerichts vor. Für die Antworten auf alle der vielen Rechtsfragen warten wir gespannt auf die schriftliche Urteilsbegründung.
Rechtliche Grundlagen
Art. 20 Gleichheit vor dem Gesetz
Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich.
Art. 51 Anwendungsbereich
(1) Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.
(2) Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.
Das sagen wir dazu