BEARBEITER, DGB Rechtsschutz GmbH


Eine Tariföffnungsklausel, die den Betriebsparteien das Hinausschieben von Tariflohnerhöhungen ermöglicht, erlaubt auch rückwirkende Regelungen.

Welcher Sachverhalt lag dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zu Grunde?


Der Kläger ist bei der Beklagten als Arbeitnehmer beschäftigt. Die Beklagte ist OT-Mitglied im Verband der hessischen Metall- und Elektrounternehmen. In ihren Betrieben sind Betriebsräte gebildet.

Nach dem zwischen der IG Metall und dem Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen e.V. abgeschlossenen Tarifvertrag über Löhne, Gehälter und Ausbildungsvergütungen vom 17.11.2008 (LTV 2008) erhöhte sich der Grundlohn für die Zeit-, Akkord- und Prämienlohnarbeiter ab dem 01.02.2009 um 2,1 % und um weitere 2,1 % ab dem 01.05.2009.

Der LTV 2008 enthält folgende Öffnungsklausel: "Durch freiwillige Betriebsvereinbarung kann der Beginn der Tarifperiode entsprechend der wirtschaftlichen Lage des Betriebes vom 01.05.2009 längstens bis zum 01.12.2009 verschoben werden. In diesem Fall gelten die Lohn- und Gehaltstabellen sowie die Ausbildungsvergütungen vom 01.02.2009 bis zu dem in der Betriebsvereinbarung festgelegten Termin weiter."

Die Beklagte schloss mit ihrem Gesamtbetriebsrat am 09.11.2009 eine Gesamtbetriebsvereinbarung (GBV) zur Entgeltanpassung ab, wonach die durch den Tarifvertrag vereinbarte Gehaltserhöhung rückwirkend erst am 01.10.2009 wirksam werden sollte.

Mit seiner Klage hat der Arbeitnehmer die Zahlung der 2,1%igen Lohnerhöhung für die Monate Mai bis September 2009 sowie ein erhöhtes Weihnachtsgeld verlangt. Er hat gemeint, die Beklagte sei nach den vertraglichen Vereinbarungen sowie aufgrund betrieblicher Übung zur Weitergabe der tariflich vereinbarten Lohnerhöhungen verpflichtet. Durch die erst am 9. November 2009 abgeschlossene GBV könne der Zeitpunkt der vorgesehenen Lohnerhöhung nicht mehr verschoben werden.

Wie hat das Bundesarbeitsgericht entschieden?


Das BAG wies, wie auch schon das Landesarbeitsgericht (LAG) in der Vorinstanz, die Forderung des Klägers zurück. Ob der Kläger auch aufgrund einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung oder aufgrund betrieblicher Übung eine Lohnerhöhung entsprechend § 2 Nr. 1 b) des LTV 2008 verlangen könnte, bedarf keiner Entscheidung, weil die GBV 2009 den Zeitpunkt für die zweite Stufe der Tariferhöhung wirksam auf den 1.10.2009 hinausgeschoben hat.

Die Richter begründen ihre Entscheidung unter anderem mit der Erwägung, dass den Betriebsparteien auch in zeitlicher Hinsicht der ihnen durch eine Tariföffnungsklausel geschaffene Freiraum zu belassen sei.
Das Hinausschieben der zweiten Stufe der Tariflohnerhöhung auf einen nach dem 1. Mai 2009 liegenden Zeitpunkt verstößt nicht gegen das für Tarifnormen geltende rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts tragen tarifvertragliche Regelungen auch während der Laufzeit des Tarifvertrags den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit durch Tarifvertrag in sich. Dies gilt selbst für bereits entstandene und fällig gewordene, aber noch nicht abgewickelte Ansprüche. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zu einem rückwirkenden Eingriff in ihr Regelwerk ist durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes für die Normunterworfenen begrenzt.

Wenn die Tarifvertragsparteien diesen Freiraum begrenzen wollten, müsse dies im Tarifvertrag deutlich zum Ausdruck kommen. Ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot liege nicht vor.

Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis:

Können bereits erlangte Ansprüche, also Rechtspositionen von Arbeitnehmern nachträglich wieder genommen werden? Widerspricht dies nicht grundlegenden Rechtsprinzipien? Dem Rechtsstaatsprinzip unterliegen auch Tarifverträge, die für die betroffenen Arbeitnehmer „normativ“, also wie Gesetze wirken. Machen wir also einen kurzen Ausflug in das Verfassungsrecht.

Grundsätzlich dürfen neu geschaffene Gesetze nicht in die Vergangenheit wirken. Das sogenannte Rückwirkungsverbot folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Absätze 1 und 3 Grundgesetz). Der Bürger muss sich auf Gesetze einstellen können. Wer von einem Gesetz betroffen ist, muss auf die Geltung der Vorschrift vertrauen können. Dabei wird unterschieden zwischen echter und unechter Rückwirkung. Die echte Rückwirkung liegt vor, wenn ein Gesetz nachträglich in abgeschlossene Sachverhalte der Vergangenheit eingreift. Die unechte Rückwirkung ist gegeben, wenn sich ein Gesetz auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte auswirkt, damit aber zugleich eine Rechtsposition nachträglich entwertet. Bei Gesetzen, die der Staat erlässt und von denen Bürger betroffen sind, ist eine echte Rückwirkung grundsätzlich verfassungswidrig. Dies gilt insbesondere im Strafrecht, schon die Römer wussten: keine Strafe ohne Gesetz. Im Zivilrecht und im Verwaltungsrecht kann eine Rückwirkung aber trotzdem dann zulässig sein, wenn mit einer späteren Gesetzesänderung zum betreffenden Zeitpunkt gerechnet werden musste. Die Vertragsparteien selbst können im Zivilrecht frei über ihre Rechtspositionen verhandeln, auch über bereits entstandene. Ende des verfassungsrechtlichen Ausflugs.

Das Bundesarbeitsgericht bewertet Tarifverträge wie Gesetze. Das Vertrauen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Bestand des tariflichen Anspruchs ist grundsätzlich schutzwürdig. In der Regel müssen Beschäftigte nicht damit rechnen, dass in bereits entstandene Ansprüche eingegriffen wird, auch wenn sie noch nicht erfüllt oder noch nicht fällig sind. Etwas anderes gilt nur dann, wenn bereits vor der Entstehung des Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Tarifvertragsparteien diesen Anspruch zuungunsten der Arbeitnehmer ändern werden. Das Bundesarbeitsgericht kommt zu der Wertung, dass tarifvertragliche Regelungen auch während der Laufzeit des Tarifvertrags den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit durch Tarifvertrag in sich tragen. Kurz: Die Tarifvertragsparteien von ihnen selbst vereinbarte Ansprüche auch wieder nehmen, wenn diese noch nicht abgewickelt sind.

Im vorliegenden Fall hatte der Tarifvertrag die  Betriebsparteien zu einem Eingriff in Ansprüche ermächtigt, nämlich dem Aufschub der Tariferhöhung. Weil aber die Ansprüche noch nicht abgerechnet waren, kommt der Betriebsvereinbarung keine echte Rückwirkung zu.
Die Betriebsparteien durften die Tariflohnerhöhung verschieben, ohne gegen Verfassungsrecht zu verstoßen.
Für die Praxis gilt deshalb: Bereits entstandene Ansprüche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind grundsätzlich tabu. Mit einer Betriebsvereinbarung darf in solche Ansprüche nicht eingegriffen werden. Nur wenn ein Tarifvertrag (oder ein Gesetz) dies ausdrücklich genehmigen und die Arbeitnehmer mit einer Änderung rechnen mussten, können ausnahmsweise Ansprüche auch aus der Vergangenheit genommen werden.

 

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 22.05.2012, 1 AZR 103/11