Wer muss die Arbeitsstunden zählen? Copyright by Adobe Stock/Ralf Geithe
Wer muss die Arbeitsstunden zählen? Copyright by Adobe Stock/Ralf Geithe

Es ist ein Problem, dass viele Beschäftigte haben: Sie haben Arbeitsstunden abgeleistet und möchten dafür bezahlt werden. Der Arbeitgeber lehnt die Bezahlung ab und begründet das damit, dass der - oder diejenige nicht die Anzahl der Stunden gearbeitet hat, die er bzw. sie angibt. Ein weiteres Problem ist, dass viele Betriebe kein Zeiterfassungssystem und somit auch keine verlässlichen Unterlagen über die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten haben.
 
So erging es auch dem Bauarbeiter Frieder F. Er hatte im Zeitraum Oktober und November 2018 insgesamt 195 Stunden gearbeitet und konnte das anhand von Stundenrapporten, die er täglich angefertigt hatte, nachweisen. Sein Arbeitgeber weigerte sich jedoch, die Rapporte anzuerkennen, und zahlte Frieder F. nur 180 Arbeitsstunden. Frieder F. wollte das nicht hinnehmen und ging vor Gericht.
 
In der Verhandlung verwies der Arbeitgeber auf sein Bautagebuch, in dem die Arbeitsstunden von Frieder F. aufgezeichnet wären. Er selbst habe zusammen mit anderen Mitarbeitern dieses Bautagebuch geführt.
Das Arbeitsgericht gab Frieder F. recht und verurteilte dessen Arbeitgeber, ihm weitere 15 Stunden zu bezahlen. Dabei führt das Gericht in seinem Urteil folgendes aus:
 

Arbeitgeber muss Zeiterfassungssystem einrichten

Der Arbeitgeber ist verpflichtet, ein „objektives, verlässliches und zugängliches“ Zeiterfassungssystem einzuführen. Dabei verwies das Gericht auf die Arbeitszeitrichtlinie der Europäischen Union, auf die europäische Grundrechte-Charta und auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Danach habe jeder Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auch auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten. Das könne aber nur dann gewährleistet werden, wenn die geleisteten Arbeitsstunden erfasst werden. Nur dann könne man feststellen, ob die geleisteten Stunden über die vereinbarte Normalarbeitszeit hinausgingen und ob die vorgeschriebenen Ruhezeiten eingehalten würden.
 

Bautagebuch genügt nicht

Deshalb sei der Arbeitgeber verpflichtet, ein Zeiterfassungssystem, das diese Kriterien erfülle, in seinem Betrieb einzuführen. Der Arbeitgeber von Frieder F. habe das nicht getan. Ein Bautagebuch sei kein Zeiterfassungssystem im Sinne der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs. Zweck eines Bautagebuchs sei nicht die Erfassung der Arbeitszeiten der beschäftigten Arbeitnehmer. Es sei nur eine Grundlage für die Berechnung der Honorare für Architekt*innen sowie Ingenieur*innen.
 

Eigene Aufzeichnungen des/der Beschäftigten reichen aus, um Stundenanzahl nachzuweisen

In diesem Fall genügten die Aufzeichnungen des/der Beschäftigten und im Fall des Frieder F. dessen Stundenrapporte, um die Anzahl der erarbeiteten Stunden nachzuweisen. Da sein Arbeitgeber kein geeignetes Zeiterfassungssystem hatte, hatte er auch nichts in der Hand, um Frieder F.`s Angaben zu widerlegen. Sie galten somit als zugestanden. Der Arbeitgeber hatte somit die von Frieder F. geforderten 15 Arbeitsstunden nachzuzahlen.
 
Hier geht es zum Urteil des Arbeitsgerichts Emden vom 20. Februar 2020-2 Ca 94/19


Lesen Sie hierzu auch:

LAG: Wer Überstunden duldet, muss sie auch bezahlen - DGB Rechtsschutz GmbH

Überstunden: Wann habe ich einen Anspruch auf Bezahlung? - DGB Rechtsschutz GmbH

Das sagen wir dazu:

Das Urteil des Arbeitsgerichts ist  aus mehreren Gründen von großer praktischer Bedeutung: zum einen geht es um die gerichtliche Darlegungs-und Beweislast des Arbeitnehmers wegen geleisteter Arbeits- und Überstunden, zum anderen um die Verpflichtung des Arbeitgebers, in seinem Betrieb ein Zeiterfassungssystem einzuführen.

Abgestufte Darlegungs-und Beweislast

Die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts geht bei Vergütungsansprüchen des/der Beschäftigten von einer abgestuften Darlegung-und Beweislast aus. Zunächst muss der/die Arbeitnehmer*in erklären, an welchen Tagen er/sie von wann bis wann Arbeit geleistet hat oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat (erste Stufe).
Darauf  muss der Arbeitgeber genau darlegen, an welchen Tagen der/die Arbeitnehmer*in die Arbeitsstunden nicht geleistet hat oder sich nicht bereitgehalten hat, um Arbeitsanweisungen entgegenzunehmen (zweite Stufe).
Wenn ihm das gelungen ist, muss der/die Arbeitnehmer*in seine/ihre Angaben beweisen (dritte Stufe).
Besonders große Probleme bereitet das dann, wenn die Beschäftigten Überstunden - also Stunden, die über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinausgehen - geltend machen. Um diese Ansprüche abzuwehren, genügt nach Auffassung der Rechtsprechung die schlichte Erklärung des Arbeitgebers, er habe diese Überstunden nicht gewollt und auch nicht angeordnet. Der/die Arbeitnehmer*in muss dann das Gegenteil nachweisen - eine schwierige Aufgabe, wenn keine Zeugen oder vom Arbeitgeber unterzeichnete Stundenaufstellungen vorhanden sind.
Die prozessuale Lage der Beschäftigten würde sich verbessern, wenn der Arbeitgeber verpflichtet wäre, ein Zeiterfassungssystem, in dem sämtliche Arbeitsstunden erfasst werden, einzuführen, wovon auch das Arbeitsgericht Emden ausgeht. Womit die nächste Frage wäre:

Ist der Arbeitgeber verpflichtet, ein Zeiterfassungssystem einzuführen?

Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs, der sich auf die Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 1 Grundrechte-Charta beruft, eindeutig ja. Allerdings müsste eine entsprechende Regelung in das nationale Recht umgesetzt werden, was in Deutschland noch nicht geschehen ist. Das Arbeitsgericht Emden umgeht dieses Problem, indem es darauf verweist, dass die Rechte aus der europäischen Grundrechte-Charta eine unmittelbare Bindungswirkung entfalten, so dass eine Umsetzung in das nationale Recht eigentlich nicht notwendig sei. Dabei geht das Arbeitsgericht auf eine weitere Regelung des Arbeitszeitgesetzes ein: nach § 16 Abs. 2 Arbeitszeitgesetz muss der Arbeitgeber die über die arbeitsvertragliche Arbeitszeit hinausgehenden Arbeitsstunden erfassen. Das setzt eigentlich denknotwendig die Einführung eines Zeiterfassungssystems voraus. Ob der Arbeitgeber dadurch verpflichtet wird, solch ein System einzuführen, ist sehr umstritten.

Vertragliche Nebenpflicht des Arbeitgebers

Das Arbeitsgericht Emden weist daher auf eine Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch ( § 241 Abs 2 BGB) hin, die besagt, dass Vertragspartner die berechtigten Interessen des Vertragsgegners berücksichtigen müssen. Hieraus lässt sich auch eine Pflicht des Arbeitgebers, ein zuverlässiges Zeiterfassungssystem einzurichten, herleiten. Das ist nachvollziehbar, zumal deutsche Gesetze möglichst so ausgelegt werden sollen, dass sie mit dem europäischen Recht zu vereinbaren sind. Solange der deutsche Gesetzgeber auf diesem Gebiet nicht tätig geworden ist, sollte man sich als betroffene/r Beschäftigte/r hierauf berufen.

Rechtliche Grundlagen

BBG /ArbZG

§ 241 Pflichten aus dem Schuldverhältnis
(1) Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Die Leistung kann auch in einem Unterlassen bestehen.
(2) Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten.


Arbeitszeitgesetz (ArbZG)
§ 16 Aushang und Arbeitszeitnachweise
(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, einen Abdruck dieses Gesetzes, der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen, für den Betrieb geltenden Rechtsverordnungen und der für den Betrieb geltenden Tarifverträge und Betriebs- oder Dienstvereinbarungen im Sinne des § 7 Abs. 1 bis 3, §§ 12 und 21a Abs. 6 an geeigneter Stelle im Betrieb zur Einsichtnahme auszulegen oder auszuhängen.
(2) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1 hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen und ein Verzeichnis der Arbeitnehmer zu führen, die in eine Verlängerung der Arbeitszeit gemäß § 7 Abs. 7 eingewilligt haben. Die Nachweise sind mindestens zwei Jahre aufzubewahren