Ob im Sommer oder an Weihnachten – tarifliche Sonderzahlungen nimmt man immer gerne, auch im Krankheitsfall. © Adobe Stock: blende11.photo
Ob im Sommer oder an Weihnachten – tarifliche Sonderzahlungen nimmt man immer gerne, auch im Krankheitsfall. © Adobe Stock: blende11.photo

Vor dem Bundesarbeitsgericht vertrat Angelika Kapeller, Juristin beim Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und Europäisches Recht einen seit langem erkrankten Arbeitnehmer. Der Mann bezog inzwischen Krankengeld. Auf das Arbeitsverhältnis ist der Manteltarifvertrag für Arbeitnehmer der gewerblichen Verbrundgruppen in Brandenburg (MTV) anwendbar.

 

Wenigstens eine Lohnersatzleistung muss es sein

 

Der MTV sieht für den Monat November jeden Jahres eine Sonderzahlung vor. Der Anspruch ist nach wenigstens sechsmonatiger Betriebszugehörigkeit gegeben. In dem Jahr, in dem der:die Arbeitnehmer:in auf eigene Veranlassung den Betrieb verlässt oder das Arbeitsverhältnis durch verhaltensbedingte Kündigung beendet wird, besteht kein Anspruch auf eine Sonderzahlung. Ausnahmen bilden die Arbeitnehmer:innen, die wegen Invalidität, Erreichung der Altersgrenze bzw. Inanspruchnahme des vorgezogenen Altersruhegeldes in der 2. Jahreshälfte ausscheiden. Sie haben vollen Anspruch auf eine Sonderzahlung.

 

Ruhen jedoch die Rechte aus dem Arbeitsverhältnis, z. B. bei Wehrdienst, Zivildienst, Elternzeit oder besteht kein Anspruch auf Arbeitsentgelt, Ausbildungsvergütung oder Lohnersatzleistungen von mehr als zwei Wochen im Kalendermonat, so ermäßigt sich der Anspruch um 1/12 je Kalendermonat.

 

Der Arbeitgeber hatte an den Kläger nur eine um die Zeit des Krankengeldbezuges gekürzte Jahressonderzahlung überwiesen. Das führte zum Rechtsstreit, der im April 2023 vor dem Bundesarbeitsgericht verhandelt wurde. In oberster Instanz erging ein erfreuliches Urteil. Dem Kläger steht der streitige Anspruch zu.

 

Auch in Gießen stritt ein Arbeitnehmer um seine Sonderzahlung

 

Ähnlich erging es einem Kläger in Gießen. Die Jurist:innen des dortigen DGB Rechtsschutzbüros erreichten ebenfalls eine positive Entscheidung des Arbeitsgerichts in erster Instanz – das Urteil des Bundesarbeitsgerichts lag da schriftlich noch nicht vor.

 

In Gießen waren die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie Hessen, u.a. auch der Tarifvertrag über die betriebliche Sonderzahlung (TV Sonderzahlung), anwendbar. Dort heißt es, dass Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis im Kalenderjahr kraft Gesetzes oder Vereinbarung ruht oder die aus sonstigen Gründen im Kalenderjahr nicht gearbeitet haben, keine Sonderzahlung erhalten; ruht das Arbeitsverhältnis im Kalenderjahr teilweise oder haben Beschäftigte wegen unentschuldigten Fehlens teilweise nicht gearbeitet, wird die Sonderzahlung nur anteilig ausgezahlt.

 

Beschäftigte, die die Voraussetzungen erfüllen, jedoch wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit, wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wegen Erreichens der Altersgrenze oder aufgrund Kündigung zwecks Inanspruchnahme eines vorgezogenen Altersruhegeldes vor dem Auszahlungstag ausgeschieden sind, erhalten jedoch die volle Sonderzahlung. Beschäftigte, die bis zum 30. Juni des Auszahlungsjahres ausscheiden, erhalten die halbe Sonderzahlung.

 

Der Kläger stand im Arbeitslosengeldbezug

 

Der Kläger in Gießen war ebenfalls lange Zeit erkrankt und vom Krankengeldbezug ausgesteuert. Er bezog zwischenzeitlich Arbeitslosengeld. Der Arbeitgeber überwies die tarifliche Sonderzahlung nicht. Er meinte, der Kläger habe nahtlos Arbeitslosengeld erhalten und unterliege nicht mehr dem Direktionsrecht des Arbeitgebers. Das Arbeitsverhältnis sei suspendiert und nur noch formeller Natur. Es solle nach beiderseitigem Parteiwillen keine rechtliche Wirkung mehr entfalten. Das Arbeitsverhältnis „bestehe" gerade nicht am Auszahlungstag.

 

Das Arbeitsgericht Gießen bewertete die Rechtslage anders. Der Kläger habe die tariflichen Voraussetzungen erfüllt, denn er stehe zur Beklagten in einem Arbeitsverhältnis. Obwohl er während des gesamten Bezugszeitraumes durchgehend arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei, sei der Anspruch nicht entfallen.

 

Auch im inaktiven Arbeitsverhältnis kann ein Anspruch bestehen

 

Der Anspruch entfalle auch nicht deswegen, weil dieses Arbeitsverhältnis nur noch formeller Natur sein möge und aktiv nicht mehr gearbeitet werde. Das Bundesarbeitsgericht vertrete zwar die Auffassung, dass der Anspruch ausnahmsweise dann entfalle, wenn der:die Arbeitnehmer:in nach langer Arbeitsunfähigkeit und Aussteuerung durch die Krankenkasse zunächst Arbeitslosengeld erhalte, später Rente beantrage und der Arbeitgeber auf sein Direktionsrecht aus dem Arbeitsverhältnis verzichtet habe.

 

In solchen Fällen solle das an sich fortbestehende Arbeitsverhältnis rechtlich in der Bindung so gelockert sein, dass kein Arbeitsverhältnis im Sinne des Tarifvertrages mehr angenommen werden könne.

 

Der Anspruch des Klägers sei jedoch aufgrund des TV betriebliche Sonderzahlung nicht ausgeschlossen. Demnach erhielten nämlich Arbeitnehmer:innen, die aufgrund Erwerbsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit oder verminderter Erwerbsunfähigkeit oder bei einer Kündigung wegen Inanspruchnahme eines vorgezogenen Altersruhegeldes vor dem Auszahlungstag ausschieden, eine volle Sonderzahlung.

 

Kurz und knapp meint das Arbeitsgericht dazu, der Kläger falle nicht unter diese abschließende Regelung, da er tatsächlich noch im Arbeitsverhältnis stehe. Deshalb müsse der Arbeitgeber ihm die streitige Sonderzahlung überweisen.

 

In dritter Instanz ermittelten die Richter:innen genauer

 

Das Bundearbeitsgericht betrachtete die Rechtslage demgegenüber etwas eingehender und setzte sich mit dem Begriff der „Lohnersatzleistung“ auseinander. Hier hatte der Arbeitgeber die tarifliche Sonderzahlung ebenfalls gekürzt. Grund dafür war der Bezug von Krankengeld.

 

Der Kläger war der Meinung, dass der Begriff der „Lohnersatzleistungen" im Tarifvertrag Geldleistungen erfasse, die an die Stelle des ausbleibenden Arbeitsentgelts träten, sodass sowohl die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall als auch das Krankengeld hierunter fielen. Mit der Jahressonderzahlung solle in erster Linie die Betriebstreue und nicht die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung honoriert werden.

 

Das Bundesarbeitsgericht legte den Tarifvertrag aus. Dem Kläger stehe ein Anspruch gegen die Beklagte aus dem MTV auf die volle Sonderzahlung zu, entschied es. Die Beklagte sei entgegen der Ansicht der Vorinstanz nicht berechtigt gewesen, die Sonderzahlung wegen des Krankengeldbezugs zu kürzen.

 

Ist das Krankengeld eine Lohnersatzleistung?

 

Die vom Tarifvertrag geforderte Betriebszugehörigkeit weise der Kläger auf. Die tariflichen Voraussetzungen für eine Kürzung der Sonderzahlung seien nicht gegeben. Krankengeld falle unter den tariflichen Begriff der „Lohnersatzleistung“. Bereits der Wortlaut der Vorschrift spreche dafür, dass die Tarifvertragsparteien von einem weiten Verständnis dieses Begriffes ausgingen und nicht nur solche Leistungen des Arbeitgebers, sondern auch diejenigen von dritter Seite - wie das Krankengeld - erfasst wissen wollten.

 

Die Tarifvertragsparteien des MTV hätten den Begriff der „Lohnersatzleistungen" nicht selbst definiert. Es gebe auch keinen feststehenden Rechtsbegriff der Lohn- bzw. Entgeltersatzleistung für den Bereich des Arbeitsrechts. Es komme schließlich auch nicht auf den Begriff der „Lohnersatzleistung" im Steuerrecht an. Dieser beinhalte eine Vielzahl von Leistungen und der Norm liege keine verallgemeinerungsfähige Begriffsbestimmung zugrunde, die über ihren Anwendungsbereich im Steuerrecht hinaus allgemeine Geltung beanspruchen könnte.

 

Das allgemeine arbeitsrechtliche Verständnis von „Lohnersatzleistungen" im Zeitpunkt des Abschlusses des MTV sei weit gewesen. Als Lohnersatzleistungen habe man alle Leistungen angesehen, die dazu dienten, den Ausfall des Lohns bzw. Arbeitsentgelts in bestimmten, für den Arbeitnehmer typischerweise schwierigen sozialen Situationen auszugleichen.

 

Auch die frühere Rechtsprechung zieht das BAG heran

 

Nach der im Zeitpunkt des Abschlusses des MTV vorliegenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts seien unter diesen Begriff sowohl Lohnersatzleistungen des Arbeitgebers als auch der Sozialversicherungsträger gefallen. Als Lohnersatzleistungen habe man u.a. die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, den Zuschuss des Arbeitgebers zum Krankengeld sowie Leistungen wegen vorübergehender Verhinderung bezeichnet.

 

Das Bundesarbeitsgericht habe unter Lohnersatzleistungen aber auch Krankengeldzahlungen, das Arbeitslosengeld und das frühere Konkursausfallgeld verstanden. Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien von einem engeren Verständnis ausgegangen seien, ergebe sich aus dem MTV nicht. Insbesondere habe ein Wille, die Sonderzahlung für Zeiten des Krankengeldbezugs zu kürzen, keinen hinreichenden Niederschlag im Wortlaut des ohne jegliche Einschränkungen verwendeten Begriffs „Lohnersatzleistungen" gefunden. Das ergebe sich auch nicht aus der Aneinanderreihung der Begriffe „Arbeitsentgelt, Ausbildungsvergütung, Lohnersatzleistungen" im Tarifvertrag.

 

Einschränkungen könnten möglich sein

 

Zwar könnte das Wort „Lohnersatzleistungen" im Anschluss an „Arbeitsentgelt, Ausbildungsvergütung" dafür sprechen, dass es sich in allen drei Fällen um arbeitgeberseitige Leistungen handeln solle. Die durch Kommata getrennte Reihung von „Arbeitsentgelt, Ausbildungsvergütung, Lohnersatzleistungen" sei aber auch so zu verstanden, dass sie verschiedene, voneinander unabhängige Elemente eines Tatbestands enthalte, die diesen jeweils erweiterten.

 

Beziehe man andere tarifliche Vorschriften in die Überlegung mit ein, ergebe sich auch hieraus, dass das Krankengeld zu den „Lohnersatzleistungen“ im Sinne des MTV zähle. Der MTV führe die Begriffe „Entgeltfortzahlung“ und „Lohnersatzleistungen“ nebeneinander auf. Damit werde verdeutlicht, dass der Begriff der Lohnersatzleistung über den der Entgeltfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz hinausgehen und umfassender zu verstehen sein müsse.

 

Die Zahlung von Krankengeld war den Tarifvertragsparteien bekannt

 

Diese Gegenüberstellung zeige, dass unter „Lohnersatzleistungen" nicht nur arbeitgeberseitige Leistungen fielen, sondern insbesondere auch das Krankengeld, das sich an die Entgeltfortzahlung bei längerer Arbeitsunfähigkeit anschließe.

 

Den Tarifvertragsparteien sei die in der betrieblichen Praxis nicht selten vorkommende Fallkonstellation einer Arbeitsunfähigkeit präsent gewesen. Insoweit werde ihnen auch bewusst gewesen sein, dass im Fall länger andauernder Arbeitsunfähigkeit im Anschluss an die Entgeltfortzahlung regelmäßig ein Anspruch auf Krankengeld bestehe. Dennoch hätten sie darauf verzichtet, den Begriff der Lohnersatzleistungen zu definieren oder einzuschränken und damit insbesondere den Krankengeldbezug auszunehmen.

 

Auch die Betriebstreue wird honoriert

 

Schließlich diene die Sonderzahlung auch der Vergütung für geleistete Arbeit. Der MTV sehe nämlich vor, dass ein Anspruch nicht für Zeiten bestehe, in welchen das Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnis ruhe. Aus weiteren Regelungen des MTV werde aber ersichtlich, dass mit der Sonderzahlung ebenfalls die Betriebszugehörigkeit bzw. Betriebstreue honoriert werden solle. So entstehe ein Anspruch nach dem MTV erst nach einer sechsmonatigen ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit und ein Anspruch bestehe nicht in dem Jahr, in dem der:die Arbeitnehmer:in bzw. Auszubildende auf eigene Veranlassung oder wegen einer verhaltensbedingten Kündigung aus dem Betrieb ausscheide.

 

Ausnahmen gebe es bei einem vorzeitigen Ausscheiden innerhalb der zweiten Jahreshälfte wegen Invalidität, Erreichens der Altersgrenze oder Inanspruchnahme des vorgezogenen Altersruhegeldes. Hier sehe der MTV einen Anspruch durchaus vor. Insgesamt handele es sich bei der tariflichen Sonderzahlung um eine Leistung mit Mischcharakter, bei der die Tarifvertragsparteien Anspruchsvoraussetzungen und Kürzungsmöglichkeiten differenziert festgelegt hätten. Eine einzelne Zwecksetzung, die dazu zwingen würde, das Krankengeld aus dem Begriff der „Lohnersatzleistungen" auszunehmen, bestehe nicht.

 

In beiden Fällen Erfolg gehabt dank der Vertretung durch den gewerkschaftlichen Rechtsschutz.

Das sagen wir dazu:

Angelika Kappeller, Juristin beim Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und Europäisches Recht, erläutert dazu:

"Der Senat stellt fest, dass es keinen feststehenden Rechtsbegriff der Lohn- bzw. Entgeltersatzleistung für den Bereich des Arbeitsrechts gab und gibt. Auf die (sehr weitgehende) Definition in § 32 b Abs.1 Nr.1 b EStG kommt es nicht an. Nach der zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses vorliegenden Rechtsprechung des BAG konnten sowohl Leistungen des Arbeitgebers als auch der Sozialversicherungsträger erfasst sein, u.a. Krankengeld, Konkursausfallgeld und Arbeitslosengeld. Der Senat hält an diesem weiten Begriff auch für die Auslegung des § 17 Nr.6 Halbs. 2 MTV für die Arbeitnehmer der gewerblichen Verbundgruppen in Brandenburg fest, so dass eine Kürzung der tariflichen Sonderzahlung für den Fall ausscheidet, dass der Arbeitnehmer mehr als zwei Wochen im Kalendermonat Krankengeld bezogen hat. Krankengeld ist eine Lohnersatzleistung im Sinne auch dieses Tarifvertrags. Die Auffassung der Arbeitgeberseite, gemeint seien nur „Lohnersatzleistungen des Arbeitgebers“, beantwortet der Senat mit der Formulierung, der Kläger habe in jedem Monat Anspruch auf „Arbeitsentgelt in Form von Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall“ oder auf eine „Lohnersatzleistung im Sinne der Tarifnorm“. Damit ist klargestellt, dass Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber gerade keine Lohnersatzleistung darstellt."